KUNSTRADIO


"POLYGLOTTE"


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Eine Hörcollage
von Karlheinz Barwasser und Robert Stauffer


Tonmaterialsammlung: Robert Stauffer
Montage, Schnitt, Abmischung und Regie: Karlheinz Barwasser


Die Hörcollage POLYGLOTTE ist als eigene und freie Autorenproduktion im eigenen Tonstudio realisiert worden. Dabei ging es nicht um die Interpretation und Reproduktion eines bereits fertigen Typoskripts, sondern um die Bearbeitung, Zusammenstellung und Manipulation bereits vorhandenen O-Tonmaterials. Aus einem Archivmaterial von mehreren hundert Stunden Spieldauer wurde in 210 Arbeitsstunden die Hörcollage POLYGLOTTE zusammengestellt und abgemischt


.Informationstheoretisches und wahrnehmungspsychologisches Konzept

"Ein - der Diktion und Anlage nach - programmatischer Telefonmonolog eines Akteurs in Gestalt eines Sozialtherapeuten erörtert, über das ganze Hörspiel verteilt, das Phänomen, die Aporie vom landläufigen Hörerwunsch und -bedürfnis nach Eindeutigkeit und Sicherheit auf der einen Seite und der von uns zwecks Hinterfragen inszenierten Verunsicherungen auf der anderen Seite. Die diesem Telefonmonolog begleitende Totale von Informationsmenge wird von uns eingesetzt, um, zuerst, eine Zerstörung von Hörklischees zu erreichen. Auf der Grundlage einer Bereitschaft zum experimentellen Hören kann sich der Konsument hiernach einer "Durchflutung" hingeben, sich und sein Ohr sensibilisieren und sich auf das Experiment einlassen. Die Ausführungen des Soziotherapeuten basieren dabei weitgehend auf Erkenntnissen der heutigen Musiksoziologie und Musikwahrnehmungspsychologie (etwa ab Rudolf Heinemann), sie orientieren sich aber auch an Erkenntnissen empirischer Literaturwissenschaft (Siegfried J. Schmidt).

Bei der Zusammenstellung des Tonmaterials war dennoch unsere Intention, einen Zusammenhang zwischen den verwendeten Elementen, die in ihrer Ausgangsbeschaffenheit populären Hörgewohnheiten in nichts zuwiderlaufen, zu schaffen, die so - in der erfolgten Aneinanderreihung und Zuordnung - erstmal eine akustische Verunsicherung verursachen; dies nicht zuletzt durch die Konzentration der Hörbilder und die Vorgehensweise bei der Abmischung. Durch die erste Verunsicherung soll der Hörer "gezwungen" werden, sich auf eine innere Auseinandersetzung mit dem Dargebotenen einzulassen, seine Wahrnehmungsreizbarkeit zu verfeinern. Das Hörstück POLYGLOTTE, das durchaus auch als Persiflage auf den - täglich hereinbrechenden - Informationskrieg, auf die Suggestionsmethoden der Medien, der Geelscf nach ehcte verstanden sein will, bietet eine Annäherung zum kritischen Hören und beinhaltet eine völlige Inanspruchnahme von Geist und Körperlichkeit. So angenommen, läßt POLYGLOTTE - im Gegensatz zum üblichen Hören - jede Menge Assoziationsmöglichkeiten zu. Der Hörer wird angehalten, das ihm dargebotene "Spiel" mit der ihm eigenen Lust an der Wahrnehmung aufzunehmen und beliebig "weiterzuspinnen". So wird er zu - von uns in keinster Weise festgelegten - Ergebnissen gelangen, die seine bisherigen Hörergewohnheiten par excellence entlarven.

Eine formale Ordnung des Dargebotenen wird durch den Vorgang der akustischen Wiederholung geboten; derart kann die Wahrnehmung "geschult" werden. Der Hörer wird bereit, die Aussagen der vor allem durch die Medien selbst kreierten und auch veröffentlichenten "Sprache" zu hinterfragen, sich neue Orientierungspunkte zu schaffen, aufzugliedern, um sich so der - zuerst beabsichtigten - Verunsicherung zu entziehen, sich der baren und wahren Mitteilung zu öffnen. Die Verunsicherung beflügelt so seine Phantasie.


Inhalte

Inhaltliche Schwerpunkte innerhalb der Schallvorgänge, der auditiven Ergebnisse sind: der Horizont eines klassischen Ruhe-, Genie- und Deutschlandwunschbildes durch Splitter aus Hölderlin-Gedichten, konterkariert mit Trivialberäuschen, wird perforiert durch die summarscheund anonymisierende Namensaufzählung (einer Hörergrußsendung). Die militante "Glückwunschbeschwörung" und flashes aus zeitgeschichtlichen Krisenmomenten der 70er und 80er Jahre, sowohl der BRD als auch internationaler Schauplätze, sind vernutet mit headlines über Alltags- und Ökokriminalität, Terrorismus und permanent heraufbeschworener Kriegsgefahr. POLYGLOTTE thematisiert zugleich auch das Medium Rundfunk selbst, indem das von uns verwertete Material zugleich auch Sendematerial ist, also aus dem Kommunikationskreis Sender/Empfänger entnommen ist und so zum Aktionsmodell wird. Das vage Anfangen und das ebenso vage Aufhören des Hörstücks soll die Eigenwelt des Mediums Rundfunks widerspiegeln, das - bei offenem Regler/Schaltknopf - weder einen eigentlichen Anfang, noch ein bestimmtes Ende hat. Passagen innerhalb des Stückes spielen denn auch mit dem Geräuschphänomen des Sendedurchlaufs und des fading.


Funktionen der Musik

Die in POLYGLOTTE verwendete Musik soll als akustischer Film verstanden werden und als Amalgam gegen die Gedankenflucht und die Permutationen, ebenso als harmonisches Material mit Leitmotiv- und Signalcharakter.



1988 CALENDAR 1