KUNSTRADIO


"Notizen aus Nordindien oder die Erinnerung daran"

von
Ewald Spiss



Listen


Eine Radioarbeit im Rahmen voneinem vom BMUK, Land Tirol und dem ORF-Landesstudio Tirol unterstütztem Verein zur Forderung und Realisierung von künstlerischen Projekten im elektronischen Raum, insbesondere im Raum der Massenmedien Radio und Fernsehen.
Eine Radioarbeit zu hören im:
* Tiroler Kulturjournal, Ö2 Radio Tirol, 18:30 Uhr in der Woche vom 9.-13. November 1992, in jeweils kurzen Sequenzen
* Kunstradio Öl, Do. 12. November 22:15 Uhr

Ausgangsmaterial: Tonbandaufnahmen von einer Reise nach Nordindien im April 1991. Die Aufnahmen entstanden in der Großstadt, auf dem Land, im Hotel, im Taxi, in Tempeln, bei Feiern, bei einer Demonstration, in einer Schule, im Theater, im Wald, am Wasser, etc ..

Idee: Die Basis jedes der 26 ca. eineinhalbminütigen Hörstücke (die gemeinsam wiederum ein Hörstück ergeben) bildet die "unmanipulierte dokumentarische Aufnahme" einer bestimmten Situation (z.B. im Taxi, im Hotel, am Wasser, ... ). Von diesem Basismaterial wird eine kurze Sequenz (etwa 1-2 Sekunden) gesampelt, eine Schleife gezogen und digital bearbeitet/velfremdet. Der so entstande Sound wird in die Originalaufnahme eingeblendet, sodaß jedes Stück mit der Originalaufnahme beginnt und mit der Bearbeitung endet.

"Durch das Zusammenkommen der zwei akustischen Ereignisse "unmanipulierte dokumentarische Aufnahme" und daraus "manipulierter Sound" könnte sich ein interessanter Kontrast ergeben, der eine Analogie finden könnte im Kontrast zwischen der Wahrnehmung einer Situation und der schon etwas fernen Erinnerung daran." (Ewald Spiss)

Ewald Spiss folgte im Frühling 1991 einer Einladung nach Indien. "Da mich Geisteshaltungen interessieren und im speziellen die Situation und Kultur der Tibeter fasziniert, nützte ich die Gelegenheit, um das Leben dieser Menschen in ihrem Exil in Nordindien für kurze Zeit zu erleben." (Ewald Spiss)

Mit einem Kassettenrecorder entstanden kurze Tonnotizen. Dabei richtete Ewald Spiss seine Aufmerksamkeit nicht auf Spektakuläres (im Sinne akustischer Ansichtskarten), sondern in erster Linie auf beiläufige Ereignisse - alltägliche und besondere Begebenheiten, die sich zufällig ergaben. Die Aufnahmen entstanden manchmal einfach dadurch, daß Spiss das Mikrofon aus dem Fenster des Hotelzimmers hängte. Bei anderen Gelegenheiten wurde das Aufnahmegerät in der Absicht eine bestimmte Situation zu "notieren", mitgetragen (Schule, Theater, Taxi, Tempel ... ). Leben, wie es sich im Augenblick akustisch manifestierte, wurde auf diese Art festgehalten.

"Eine Anzahl von etwa einminütigen Aufnahmen auszuwählen, aneinanderzureihen, Bruchstücke dieser Notizen mittels Sampier digital zu bearbeiten und mit der Originalaufnahme zu verbinden, ihr gegenüberzustellen, war dann der nächste Schritt. Was damit bezweckt wurde, war sozusagen eine ungenaue, durch verschiedene Einflüsse manipulierte, um einen Bruchteil kreisende Version zu schaffen, wie sie ihre Analogie in der schon etwas verblaBten Erinnerung an eine viel komplexere Situation finden könnte." (Ewald Spiss)


    Benennung der Originalaufnahmen inVersion 1 und Version 2 (für Kunstradio gekürzt)    
Ver.1Ver.2
11LandschaftRegen, Raben
22TV Lied
33TV Film
4 (Landschaftbellende Hund, Nacht)
54(LandschaftWeckruf im enfernten Kloster
6 (LandschaftRaben)
75Schuletebitanisches Volkslied
86LandschaftRaben, Vogel
97Markt
108Große Gebetsmüle
119LandschaftRaben, Mann mit Kind
1210Gebetsmülen
1311LandschaftBaustelle, Hotel
1412Rede des Dalai Lama
1513Vor dem TempelPuja, Glocken
1614Vor dem TempelPuja, Hörner
1715Taxifahrt
1816HindutempelTrummel am Eingang
1917Lied der Tibeter fü den Dalai Lama
2018Demonstration der Tibeter
2119TheaterTibetische Oper
2220Fest
2321LandschaftMilitärtrommel von Fferner Kaserne
2422Große Quelle
25 (Wasserfall)
2623GroßstadtLärm inb der Nacht

Notationen am laufenden Band:

über das Bei-läufige in Ewald Spiss Tonbandarbeiten

von Thomas Feuerstein


"I try to remember but I can't.
That's why I got married to my tape recorder." (Andy Warhol)


Der Wunsch Geschehnisse zu notieren, geht mit der Idee der Aufzeichnung und Einschreibung von Beobachtungen in Gegenständen einher. Beobachtungen werden aufgeschrieben, indem sie Gegenständen eingeschrieben werden. Die beschriebenen Gegenstände werden dabei Gegenstand der Beschreibung im oberflächlich transformativen Sinn ihrer Informierung und im kulturell weit wichtigeren symbolischen Gehalt einer Welt als Gedächtnis. In der Obsession die Welt zum Gedächtnis zu machen, liegt die eigentliche Bedeutung der Notiz. Denn erinnern kann man sich nicht an das, was in einem ist, sondern nur an das, was mit einer Notiz belegt wurde, d.h. erst durch die Notiz (noscere-erkennen) gelangen wir zu Bedeutungen und schafft sich unser Inneres ein ÄuBeres, sprich "Realität".

An der funktionalen Stellung zwischen Vergessen und Erinnern wird die Unschärfe der Notiz ablesbar. Einerseits stellt die Notiz, als die einem Gegenstand eingeschriebene Information den Garant des nicht mehr Vergessenkönnens dar, andererseits muß jedes Geschehen/Gegenstand usf. erst vergessen (eigtl. nicht greifbar) werden, um zu Information transformieren zu können. Die Notiz als Instrument Phänomene zu markieren und zu speichern, schafft ständig neue Bedingungen für unsere Rezeption von Welt und konstituiert somit unsere Wirklichkeit. Im Notieren als Markieren eröffnet sich das gesamte Spannungsfeld der Notiz im Sinn etwas zu bezeichnen und in der Bedeutung etwas vorzutäuschen. Die letztere Eigenschaft der Notiz wäre schließlich nicht mehr in irgendeinem Verweischarakter auszumachen, sondern im vollständigen Tausch des Geschehens/Gegenstandes gegen die Notiz als nominalistische Zeichenkette, d.h. das Bild, die Tonfolge, die Erzählung einer Sache wird wichtiger als die Sache selbst, verdrängt sie und wird Selbstzweck.

Spiss Notizen aus Nordindien liegen spekulativ zwischen der dokumentarischen Aufzeichnung akustischer Atmosphären und abstrakter Klänge. Die Strategie des "Bei-läufigen" von Ewald Spiss operiert auf dieser Zwischenebene, indem beiläufig ein Band eine bestimmte Situation mitschneidet. Die Poesie des "Bei-läufigen", wie sie im sparsamen und hintergründigen Einsatzes des Mediums Tonband bei Spiss entsteht, beruht dabei weder auf der Illusion von Authentizität noch auf der Schaffung musikalischer Klänge. Spiss notiert und dokumentiert nicht Situationen, um sie prometheisch wiederaufleben zu lassen. Seine künstlerische Praxis ist genau in der genannten Unschärfe zwischen Erinnern und Vergessen - der medialen Praxis des Notierens auf Magnetband - angesiedelt. Bereits im 18. Jhd. stößt man bei dem französischen Militärarzt Lamettrie auf Gedanken zu Ton- und Geräuschautomaten (Vaucanson's Maschinen ließen nach dem Flötenspieler und seiner berühmten Ente auch einen künstlichen "Sprecher" nicht mehr unmöglich erscheinen), künstliche Tonwiedergabesysteme nicht als bloße mimetische Imitationen des natürlich Lebendigen zu verstehen. Es klingt bei Lamettrie die Vermutung an, daß die Repräsentation des Natürlichen durch das Künstliche, das Technische, die natürliche Wahrheit einsehbar mache. Der Automat kopiert nicht, er realisiert, um über seine technische Konstitution die Wahrheit des Lebendigen ontologisch zu ergründen. Spiss führt dieses Denken, das bis heute unsere Technikgläubigkeit fundamentiert, in seiner Arbeit nicht fort, sondern er konfrontiert beziehungsweise integriert es mittels seines künstlerischen Gebrauchs der Tonbandmaschine in ein buddhistisches Weltbild. Der Begriff des Mediums fächert sich hierbei in seiner gesamten Bandbreite auf und beansprucht nicht zuletzt auch eine Vermittlerrolle zwischen verschiedenen Kulturen.

Spiss spielt mit der technischen Präzision der magnetischen Notation seines Recorders, um Differenzen zwischen unseren Möglichkeiten von Wirklichkeitsperzeption aufzuspüren. Daraus resultiert die Poesie als paradoxe Konvergenz von Erinnern und Vergessen, die das Replay des Bandes erst zuläßt. Wer zwischen den Zeilen eines Buches und den Rillen einer Schallplatte zu lesen und zu horchen gelernt hat, wird Spiss Arbeit zwischen den Tonspuren zu suchen wissen. Die digital gesampelten Stellen zwischen den einzelnen Klangsequenzen stellen dafür die nötigen Interpunktionen und Zeilenumbrüche dar.

Thomas Feuerstein



1992 CALENDAR 2