In "Lacrimosa" verarbeitet die in Belgrad lebende Künstlerin
Ivana Stefanovic ein dramatisches Ereignis, das ihr und allen
heute noch lebenden Beteiligten und Zeugen immer in Erinnerung
bleiben wird: eine Woche vor Kriegsausbruch in Bosnien ver
suchten die Bewohner von Sarajevo die drohende Gefahr für ihre
Stadt mit einem drei Tage dauernden Straßenkonzert aufzuhalten
und abzuwenden.
Mit "banalen Volksliedern und schlechter Musik" - so die
Autorin - wollten die Menschen aus Sarajevo damals das Recht
auf Leben in ihrer Stadt verteidigen.
Ivana Stefanovic hat dieses verzweifelte musikalische Aufbegehren, dessen Ausmaß an Tragik den Menschen erst durch das
spätere grausame Kriegsszenario in Sarajevo voll bewußt wurde,
mittels Rekorder aufgenommen.
Ein letztes Mal waren sie alle in Frieden zusammengekommen:
die Serben, die Moslems, die Kroaten - und schließlich auch
die sephardischen Juden. Die Letztgenannten mußten - wie viele
andere - Bosnien verlassen, um Sicherheit in anderen Ländern zu
suchen. Von Ihrer starken Präsenz in Bosnien (vor 50 Jahren
zählte ein Fünftel der Einwohner von Sarajevo zu dieser Minder
heitengruppe) zeugen nur noch ihre Lieder, die I.Stefanovic
bei einem Konzertauftritt einer kleinen Gruppe junger sephardischer Juden in Belgrad aufgezeichnet hat.
In "Lacrimosa" vermischt sich die Akustik des Straßenkonzerts
mit diesen Liedern. Dazwischen werden Ausschnitte aus den
Requien von Bach, Mozart, Verdi, Penderecky, Mokranjac und
Tschaikowsky hörbar. Wie Vorzeichen auf das sich ankündigende
Massensterben wirken sie im Stück:
"Meine radiophone Komposition baut ganz auf Musik auf. Von der
Musik beziehe ich die Zeichen und Symbole", erklärt die Künstlerin .
Für "Lacrimosa" hat Ivana Stefanovic auf akustische Verfremdungseffekte verzichtet. "Das Tonmaterial für die Komposition, das ich hier verarbeite, löst starke Emotionen aus. Ich möchte weder mich noch meine Zuhörer schonen.
In dieses Klang-und Musikgewebe sind die (Ton-)Spuren tiefsten menschlichen Leides eingeflochten."
"Lacrimosa" wurde bereits am 6. 5. 1993 vom ORF-Kunstradio gesendet.