Erst die abgewesten Knochen sind wirklich tot

Martin Sturm


Die punktgenaue Fixierung des Todes auf der Zeitachse steht in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Verwertung des toten Körpers. Für die gängigen kollektiven Inszenierungen, mit denen der Leichnam von den Zurückgebliebenen symbolisch verarbeitet wird, ist der Zeitpunkt im Grunde bedeutungslos. Sofern der Leichnam geruchslos bleibt, spielt es keine Rolle, ob das Begräbnisritual sofort oder erst Wochen später stattfindet. Bedeutung erhält der Zeitpunkt durch die Definition des toten Körpers als Ersatzteillager, das künstlich frisch gehalten werden muß. Bei der modernen EEG-Untersuchung wird eine hirnelektrische Stille (Null-Linie-EEG) von 30 Minuten registriert, um den Tod per deklarativem Sprechakt festzustellen. (Bei Neugeborenen ist die Zeitspanne aufgrund der physiologischen Unterentwicklung des Gehirns auf mindestens 72 Stunden ausgedehnt.)

*

Die industrielle Verarbeitung des Leichnams ist umfassend und beschränkt sich nicht nur auf die Organtransplantation. Richard verweist auf eine ganze Reihe aktueller Beispiele: Für Hauttransplantate ist die Firma Euroscin zuständig, Biodynamics vertreibt Hirnhaut, in Paris gibt es das Geschäft Auzou, ein Skeletthandel. Die Pathologie von St. Petersburg liefert Fettgewebe von Toten für die kosmetische Chirurgie, außerdem gibt es die Baltische Gewebebank..." (Richard, 75)

*

Juristisch gesehen ist die Sektion (lat. Das Schneiden) von Leichen an die Einwilligung des Verstorbenen zu Lebzeiten oder der nächsten Angehörigen bei Fehlen einer Willenserklärung gebunden. Traditionelle Ausnahmen von einem solchen Einverständnis sind der Verdacht auf unnatürliche Todesursachen, der Verdacht auf ansteckende Krankheiten und die Notwendigkeit versicherungsmedizinischer Abklärung von Todesursachen ( z.B. bei Unfällen). Durch eine Neuregelung im Krankenanstaltengesetz 1982 wurde der Rechtsgrundsatz vom Einverständnis für den Fall der Organtransplantation außer Kraft gesetzt. Leichenöffnung und Organentnahme ist ohne Zustimmung zulässig und vom Arzt zu entscheiden, wenn es darum geht, Leben zu retten. Untersagt ist sie nur dann, wenn der Verstorbene vor seinem Tod seine schriftliche Weigerung erklärt, die - und das ist entscheidend - dem Arzt vorliegt. Ein Verweis im Testament genügt also nicht und die Angehörigen haben nichts zu melden.

*

Obducere: etwas über etwas ziehen, wohl im Sinne der Verhüllung der Leiche nach der Untersuchung: So erklärt der Brockhaus die etymologische Bedeutung des Wortes Obduktion. Verhüllend in der Tat ist unser Umgang mit dem sterbenden und toten Körper. Die Befreiung des Einzelnen vom Umgang mit dem toten Körper ist ein wichtiges Merkmal des ausgehenden 20. Jhs. Alles, was mit dem totem Körper zu tun hat, wird aus der sozialen Klein-Gruppe ausgelagert und wandert in den Dienstleistungsbetrieb ab. (Richard, 68) Der Übergang' vom Leben zum Tod wird aus der Privatsphäre ausgegrenzt. Wir pflegen keinen Umgang mehr mit unseren Toten. Das Sterben zu Hause ist unerträglich-untragbar geworden. Die Fürsorge für den sterbenden und toten Körper wird Spezialisten und Maschinen überantwortet, die sich in versteckte, abgegrenzte Räumen zurückziehen.

*

Die Ausgrenzung des toten Körpers aus privaten und offenen öffentlichen Räumen ist keine anthropologische Konstante, kein natürliches Verhalten, sondern eine kulturelle Konstruktion der Neuzeit. So wurden z.B. im Mittelalter die Toten innerhalb der Ansiedlungen bestattet. Der Friedhof ist im Mittelalter ein herausgehobener Ort, der Asyl bietet. So entstehen über den Beinhäusern Wohnungen, der Friedhof ist Spiel- und Marktplatz, man errichtet sogar allgemein nutzbare Backöfen. Die Bestattung, offene Gräber, die Toten, ihre Gerüche und ihr Anblick werden nicht gefürchtet. (Richard, 50)

*

Eine Rückkehr der Sterbenden und damit auch der Leichen in die Privatsphäre am Ende des 20.Jhs könnte allenfalls durch ökonomische Zwänge in Zusammenhang mit der Kostenexplosion des Gesundheitswesens erfolgen. Statistiken zufolge sind die letzten Tage im Leben eines Patienten die teuersten für das Krankenhaus (vgl. Richard, 75).

*

Mediatisierte Körper

Die Medien leisten eine neue gesellschaftliche Anknüpfung an das Reich der Toten: Nicht unmittelbare, auf reale Begegnungen mit Tod und Sterben gestützte Erfahrungen bestimmen unser Todesbild, sondern sekundäre, medial vermittelte. (Richard, 28) Unzählige immaterielle Leichen und Sterbeszenen dringen täglich auf uns ein. Sie nehmen ihren Weg durch die Kabel der Telekommunikation, die unsere Wohnungen durchlöchern wie ein Emmentaler (Flusser). Der stoffliche Körper mit seinen Ausflüssen, Ausdünstungen, Gerüchen erscheint auf eine sterile digitale Oberfläche transformiert. Der tote Körper ist durch die Projektion der Medien gebrochen, er wird durch die technische Struktur der Medien seziert und geschnitten. Der Körper dieser mediatisierten Leichen ist ein Röhrenkasten, der beliebig ein- und ausgeschaltet werden kann. Jede Stofflichkeit, und sei sie noch so blutig oder Eingeweide-triefend, wird durch die mediale Reproduktion neutralisiert. Der Tod ist als Oberflächenerscheinung gut zu ertragen, als Oberfläche stellt der tote Körper kein Reales mehr da. (Richard, 77) Mediatisierte Leichen wecken keine Anteilnahme, das Medium betäubt die Sinne (MacLuhan). Der Blick auf die Materialität des toten Körpers wird dabei verstellt und er ist uns in der Flut der Bilder fremder als er jemals war.

*

Die Marginalisierung des Körpers als Reales, sein Verschwinden hinter einem allpräsenten medialen Bild ist eine Konsequenz seiner gesellschaftlichen Rolle (vgl. Richard, 77). Im industriellen Zeitalter, potenziert durch die gegenwärtige digitale Revolution, wird der Körper als Produktivkraft zunehmend aus dem Arbeitsprozeß ausgegliedert. Mehr noch: Er wird als Störfaktor empfunden, seine Absonderungen, sein Verfall und seine Verderblichkeit (Anders) sind kontraproduktiv und der künstlich produzierten Materie unterlegen (Richard, 42). Der Körper ist ein Totgewicht im Aufstieg der Geräte (Anders) und wird selbst als Maschine begriffen, die durch umfassende Reperraturen, den Einsatz von künstlichen oder auch natürlichen Prothesen, wie sie alle Arten von Verpflanzung von natürlichen Organen darstellen am Laufen - also am Leben - erhalten wird (vgl. Richard, 42).

*

Für die Arbeitsplätze der neuen Technologien werden nur mehr drei Körperteile benötigt, die Fingerspitzen, das Auge und das Gehirn. Insofern erscheint die Fixierung auf den Hirnstillstand als Todeskriterium konsequent. Sie ist der gesellschaftlich normierte Abdruck einer Körpervorstellung, deren Idealzustand die öbertragung des menschlichen Bewußtseins auf eine Maschine und das in Netzwerken unabhängig vom Körper flotierende Gehirn wäre (vgl. Moravecs Mind Without Body, Richard, 43). Dann wäre die Antiquiertheit des Menschen (Anders) endlich überwunden.

*

Die Vorstellung von Leben und Tod als polare Opposition und das Primat eines irreversiblen, biologischen Todes sind eine Konstruktion der modernen Wissenschaft. Alle anderen gehen davon aus, daß der Tod vor dem Tod beginnt, daß das Leben nach dem Leben fortwährt und daß es unmöglich ist, Leben und Tod zu trennen .... Aber unsere moderne Idee vom Tode wird durch ein ganz anderes Vorstellungssystem bestimmt: das der Maschine und des Funktionierens. Eine Maschine läuft oder sie läuft nicht. So ist die biologische Maschine tot oder lebendig. (Baudrillard, 251)

*

Alle anderen: das sind nicht nur archaische Gesellschaften, die den Tod als transitorischen Zustand, als Bewegung von einer Existenzform in die andere erleben. Gemeint ist hier nicht das Phantasma einer wie immer gearteten unsterblichen abgetrennten Seele. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang Vorstellungen, die sich ein Fortleben nach dem Tod körperlich denken als lebendiger Leichnam. Dies äußert sich im Zerschlagen oder Fesseln der Gebeine und im Anpfählen der Toten oder aber auch in Sorge um ihr leibliches Wohlergehen durch entsprechende Grabbeigaben (vgl. Richard, 83).

*

Vorstellungen einer vestigium vitae, eines Rückstandes von Leben im Leichnam, haben sich als kulturelles Phantasma bis heute erhalten. In den ersten Leichenschauhäusern des 18. Jhs. werden die Arme der ausgestellten Leichname mit Klingeln verbunden, die auf jede Bewegung der toten Körper reagieren. (Richard, 62) Sprechenderweise werden sie als Asyle des zweifelhaften Lebens genannt. Dies hat nicht nur mit der damals breit diskutierten Scheintodproblematik zu tun. Die von Marquis de Sade forcierte Theorie vom ewigen Kreislauf des Lebens führt in die phantasmatische Vorstellung des Vergehens der Natur als ewiges Leben. Der eigene Landbesitz ist auf vegetabilen Leichenbergen gebaut, eine Art Natur, die sich aus der Materie der Toten, Angehörigen und Freunde zusammensetzt (Richard, 63). Als gesellschaftliches Phantasma sind die lebenden Toten heute im Film körperlich wieder auferstanden. Was in die Kühlboxen der Pathologie abschoben werden soll, kehrt im Imaginären wieder, und diese Wiederkehr erfolgt im Horrorfilm in Form von verwesten Körpern, nicht etwa von körperlosen Schatten. (Richard, 53) In neuzeitlichen Vorstellungen ist es vor allem das Verwesen, das eine Grenze bildet. Ein Reflex davon findet sich in der gültigen juristischen Definition des Todes. Ein Leichnam ist keine Sache, solange er noch als Leib einer bestimmten Person anzusehen ist. Erst die abgewesten Knochen sind wirklich tot.

*

Empfohlene Lektüre: Birgit Richard: Todesbilder - Kunst, Subkultur, Medien", Wilhelm Fink Verlag München, 1995.


Martin Sturm (Offenes Kulturhaus, Linz)

<<<