SONNTAG, 3. Oktober2004, 23:05. - 23:45, Ö1

KUNSTRADIO - RADIOKUNST






Bild: Razionalnik, Seppo Gründler und Josef Klammer, 1987

Re-Inventing Radio II / Historische Serie:
Radio als Ort, Kontext und Gegenstand von Kunst
Teil 5 - Eine Kunst ohne Zeit und Raum

Eine 7-teilige Serie im Ö1-Kunstradio und bei Kunstradio on line.
Sendegestaltung: Andrea Sodomka
Regie: Elisabeth Zimmermann, Hans Groisz
Technik: Anton Reininger

PLAY

http://stream.mur.at:8000/kunstradio/mp3/2004B/MP3/03_10_04.mp3


Die Geschichte von Telekommunikationskunstprojekten und deren Entwicklung in Österreich - von den 1970er bis zu den frühen 1990er Jahren, somit noch in der Prähistorie des Internets - ist zentrales Thema des fünften Teils der Auseinandersetzung mit den historischen Voraussetzungen der Radiokunst in Österreich, die in engem Zusammenhang mit der Entwicklung von Ö1 Kunstradio steht.

Frühe Telekommunikationsprojekte und -netzwerke: WIENCOUVER

1979 nahm der kanadische Künstler Hank Bull in Wien an der Ausstellung und dem Symposion "AudioSzene 79. Sound als Medium der bildenden Kunst" teil. Zurück in Vancouver begann er mit den KünstlerInnen, die er bei seinem Aufenthalt in Wien kennengelernt hatte, zu korrespondieren.

Hank Bull
Hank Bull

Daraus sollte bald ein reger künstlerischer Austausch resultieren, der bis heute anhält. Ein wichtiges Netzwerk war entstanden. Wiencouver, die imaginäre Stadt, die zwischen ihren beiden Polen Wien und Vancouver unsichtbar im Raum schwebt, wurde gegründet und im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Arbeiten realisiert.

Im selben Jahr nahmen, ebenfalls von Wien aus, zum ersten Mal europäische Künstlerinnen an einem international vernetzten Kommunikationsprojekt teil. Interplay war ein von Bill Bartlett in Toronto initiiertes Kunst- und Telekommunikationsprojekt. Bartlett kontaktierte auf der ganzen Welt KünstlerInnen in Städten, in denen ein I.P.Sharp Büro existierte, darunter in Canberra, Edmonton, Houston, New York, Toronto, Sydney, Vancouver und Wien.

Interplay benutzte das I.P. Sharp Network, das mit einer lokalen Telefonnummer das Einwählen in ein weltweites Time-Sharing-System ermöglichte. Heute würden wir diese technische Methode als on-line chat bezeichnen. Einer der drei Wiener Knotenpunkte dieses Interplay befand sich im Live-Studio von Kunst heute im Wiener Funkhaus. Zu hören gab es - außer Erklärungen und vorgelesenen Ausschnitten aus Messages von anderen Knotenpunkten - nur das laute Rattern eines Printers, der die Botschaften ausdruckte bzw. die Geräusche des Eintippens von Reaktionen auf diese Botschaften.

Die 1980er Jahre: das Künstlernetzwerk ARTEX, Slow-Scan-TV und mehr

1980 organisierte Bill Bartlett eine Konferenz über Artists' Use of Telecommunications in San Francisco, an der auch der in Wien lebende kanadische Künstler Robert Adrian X teilnahm.

Robert Adrian X
Robert Adrian X

Aus dieser Konferenz resultierten in den folgenden Jahren eine Reihe von kollaborativer Kunstprojekte, die das Time-Sharing-Netzwerk von I.P. Sharp nutzten. Dabei entwickelte das Wiener Büro der Firma I.P. Sharp - angeregt und unterstützt von Robert Adrian X - noch im selben Jahr ein einfaches Kunst-Austausch-Programm speziell für KünstlerInnen, die sich für alternative Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien interessieren: ARTEX (Artist's Electronic Exchange Network).

ARTEX wurde einfach gehalten, so dass auch unerfahrene TeilnehmerInnen damit arbeiten konnten.

Das Internet bzw. das Arpa- oder das Usenet waren zu dieser Zeit fast ausschließlich einer akademischen Nutzergruppe vorbehalten und KünstlerInnen hatten folglich selten Zugriff darauf. Insofern war das ARTEX-Netz revolutionär. ARTEX ermöglichte es, neue Produktionsformen einer verteilten Autorenschaft erstmals dauerhaft als experimentellen "Raum" im Rahmen künstlerischer Praktiken zu nutzen. Im Laufe der 1980er Jahre organisierten Mitglieder der ARTEX-Community zahlreiche internationale Telekommunikationsevents, die bestimmte Entwicklungen der 1990er Jahre bereits vorwegnahmen.

1982 verwirklichte Robert Adrian X mithilfe des ARTEX-Netzwerks das Projekt Die Welt in 24 Stunden im Rahmen der Ars Electronica Festivals.

Die Welt in 24 Stunden
Die Welt in 24 Stunden, 1982

Die Welt in 24 Stunden verband KünstlerInnen in 15 Städten auf drei Kontinenten (u.a. in Frankfurt, Amsterdam, Wien, Pittsburgh, Toronto, San Francisco, Honolulu, Tokyo, Sydney, Istanbul und Florenz) 24 Stunden lang miteinander - von 12 Uhr mittags des 27. September bis 12 Uhr mittags des 28. September 1982. Wiencouver war Teil auch dieses Projekts.

Idee war, leicht zugängliche Telekommunikationsmedien für einen künstlerischen Austausch zu verwenden, konkret das internationale Telefonsystem. Zur Verfügung standen Slow-Scan-Television - eine direkte Ferngesprächstelefonverbindung, bei der Signale von einer Videokamera durch einen Transceiver in Audiosignale umgewandelt und via Telefon übertragen werden. Die empfangene Information wird in ein Videosignal zurückgewandelt und ist auf einem Monitor zu sehen. - Weiters gab es eine Faxverbindung, das Computernetzwerk und die Tonübermittlung via Telefon. Die meisten Stationen verwendeten mehr als ein Medium, manche setzten alle Medien simultan ein.

Jede Station wurde von Linz aus angerufen und zwar jeweils um 12 Uhr Ortszeit - der Mittagssonne um die Welt folgend - und KünstlerInnen eingeladen, Arbeiten, Improvisationen und Statements in den jeweils verfügbaren Medien auszutauschen.

1983 gründete Robert Adrian X mit Helmut Mark, Zelko Wiener, Karl Kubacek und Gerhard Taschler die Gruppe BLIX. Das erste von einer Reihe gemeinsamer Projekte hieß Telefon Musik und war der Versuch, das Telefon als Kommunikationsinstrument zu verwenden, um einen gemeinsamen Raum für KünstlerInnen zu schaffen. In diesem Raum sollten ideologische Barrieren, die Europa trennten, zwischen dem "westlichen" Wien, dem geteilten Berlin und dem "östlichen" Budapest aufgehoben sein. Dazu wurden an den jeweiligen Orten die Telefone mit Verstärkern verbunden; so konnten die Künstler einige Stunden lang live miteinander spielen.

Es fanden noch weitere Telefonmusiken statt; vor allem für die KünstlerInnen im ehemaligen Ostblock schien das Telefon ein Instrument zu sein, mit dem sie an den staatlichen Kontrollen vorbei unzensurierte künstlerische Informationen vermitteln und damit ihre Isolation durchbrechen konnten.

Die Welt in 24 Stunden
Mreza Netz

Elf Jahre später wurden diese einfachen Möglichkeiten der Telekommunikation für ein Kunstprojekt wieder aufgegriffen, das - im Nachkriegsjugoslawien - KünstlerInnen in unterschiedlichen Teilen des Landes nach langer Zeit der Isolation wieder in Kontakt treten lassen sollte: Mreza Netz, ein Live-Telefonkonzert, sollte politische und ideologische Grenzen überschreiten. Organisiert wurde das Projekt von KünstlerInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Wien.

Am 19. September 1994 waren MusikerInnen in Belgrad, Ljubljana, Pula, Sarajevo, Skopje und Wien über Telefon miteinander verbunden. Eine eigens von der österreichischen Post installierte Konferenzschaltung machte die musikalische Kommunikation möglich. In Wien konnte man das Konzert über ein Netzwerk von 1000 Telefonen, die in einer ehemaligen Straßenbahnremise im 2. Bezirk installiert waren, mitverfolgen. Außerdem wurde das Konzert live im Radio von Radio B92 in Beograd, Radio Labin Express in Labin/Pula, Radio 99 in Sarajevo und Radio Skopje in Skopje übertragen.

Razionalnik
Razionalnik, 1987

Eines der weltweit ersten Online-MIDI-Konzerte fand 1987 simultan in Graz, Budapest, Trient und Ljubljbana statt: "Razionalnik" von den Grazer Künstlern Seppo Gründler und Josef Klammer.

Der Titel Razionalnik, slowenisch für Computer ist programmatisch zu sehen, nämlich die Überführung des Musikalischen in den Bereich der Medienmaschinen.

Seppo Gründler über "Razionalnik":

"Akustikkoppler, Sampler (digitale Naturklangspeicher), Synthesizer, Personalcomputer und das Telefonnetz bildeten das medientechnische System, das zugleich die Musik generierte und die Verbindung der verstreuten Musiker herstellte. Die verwendeten Instrumente erzeugten dementsprechend keine Klänge, sondern MIDI-Daten, die entweder von Soundmodulen in Klänge umgewandelt oder von Computern in Verbindung mit Akustikkopplern in über das Telefon verschickbare MIDI-Daten verarbeitet wurden, die am anderen Ende der Leitung wieder zu Klängen rückverwandelt wurden (von A nach D und zurück). Aufgrund der Datendelays (Übertragungszeiten) war an keinem der Orte das Gleiche zu hören"


Kunstradio wird ins Leben gerufen

Ebenfalls 1987 gründete Heidi Grundmann das ORF Kunstradio. Unter dem neuen Sendetitel "Kunstradio - Radiokunst" wurde die Radiosendung selbst zum Ort und Schauplatz von Kunst.

KUNSTRADIO - RADIOKUNST arbeitet vor allem mit KünstlerInnen zusammen, die daran interessiert sind, ganz spezifisch für das Medium Radio Projekte zu entwickeln. Von Anfang an bot Kunstradio den KünstlerInnen Zugang zu Produktionsstudios, Sendezeiten und dem Know-how eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Schon bald wurde deutlich, die finanziellen und strukturellen Mittel einer wöchentlichen Radiosendung nicht für jede Art von Projekt ausreichend und adäquat sind. Daher galt und gilt es, Partner im Kulturbetrieb, bei der Kunstförderung und in den Landesstudios des ORF bei der Realisierung solcher Großprojekte zu finden.

1989 kooperierte das Kunstradio erstmals mit dem Linzer Ars Electronica Festival und dem Landesstudio Oberösterreich. Es entwickelte zum Festival-Thema Im Netz der Systeme einen Radiokunstschwerpunkt, der den Themen Live-Radiokunst, Simultaneität, Vernetzung, Interaktivität und Hörerbeteiligung gewidmet war. Erstmals gab es auch eine Lange Nacht der Radiokunst auf Österreich 1. Hier wurden u.a. Projekte realisiert und präsentiert, die via Telefon auf der einen und mit einer interkontinentalen Live-Stereo-Schaltung auf der anderen Seite miteinander vernetzt und/oder ins Funkhaus gesendet wurden.

Unter anderen verband der österreichische Künstler Wolfgang Temmel mit seiner Arbeit (He)ARTbeats die Medien Telefon und Live-Radio. Via Telefon wurden die Herzrhythmen von 5 Menschen aus 5 Kontinenten nach Linz übertragen und über Radio Oberösterreich, Ö1 und den Kurzwellendienst von Radio Österreich International in die Welt ausgestrahlt. Diese 5 Menschen gehörten jeweils einer Volksgruppe an, die irgendwo auf der Welt an der freien Entfaltung ihres Lebens gehindert wurden - eine Aboriginee aus Australien, eine Nicaraguanerin aus Managua, ein Palästinenser aus den besetzten palästinensischen Gebieten, eine Sinti aus Österreich und ein Schwarzafrikaner aus Südafrika - hörten mit einem Stethoskop ihren eigenen Herzrhythmus und übertrugen diesen simultan durch Fingerklopfen nach Linz. Aus dem dortigen Landesstudio wurden dann alle 5 Rhythmen gemeinsam mittels des Mediums Radio live ausgestrahlt.

Ein weiteres Projekt in dieser Langen Nacht der Radiokunst war Simulplay 1 von den australischen Künstlern Ross Bolleter und Jim Denley: eine Live-Interaktion über zwei Kontinente, die sich mit dem Thema der Synchronität auseinandersetzte. Im Studio in Perth saß Ross Bolleter an einem präparierten Konzertflügel, im Brucknerhaus in Linz spielte Jim Denley mit der Querflöte und seiner Stimme; via Telefonleitung spielten sie gemeinsam eine Improvisation. In der Übertragung von Australien nach Österreich war eine Verzögerung von beinahe 1 Sekunde zu vermerken mit dem Resultat, dass in beiden Städten unterschiedliche Versionen zu hören waren.

Simulplay 1 war eine Koproduktion von der Australian Broadcasting Cooperation ABC mit ihrer Sendereihe "Listening Room" und dem ORF Kunstradio.

Die 1990er Jahre: Eine Ära großer Netzprojekte

Ausgehend von den MIDI-Triggerexperimenten bei Razionalnik initiierte und veranstaltete das Kunstradio in den 1990er Jahren zahlreiche groß angelegte Projekte, die sich mit den Möglichkeiten der Vernetzung beschäftigten. Dass diese sich von den frühen Telekommunikationsprojekten durch die Verfügbarkeit aktuellerer technischer Möglichkeiten unterschieden, war offensichtlich; ihre Intention, neue Räume für künstlerische Produktionen zu erobern, war gleichgeblieben.

1992 wurde Chipradio von Kunstradio und dem Verein Transit realisiert.

Chipradio vernetzte die drei baugleichen Foyers der Landesstudios in Salzburg, Innsbruck und Dornbirn. Die vorgefundene Infrastruktur der Daten- und Übertragungsnetze zwischen diesen drei Studios wurde von den KünstlerInnen als Instrument für ihre Interaktionen eingesetzt. Chipradio verwendete Bild-, Ton- und Datenleitungen; jede der MusikerInnen war durch diese Netze an allen Orten simultan präsent:

In Salzburg steuerte Mia Zabelka über Körperinterfaces eine Robotergeige in Innsbruck.

In Innsbruck spielte Gerfried Stocker mittels Datenhandschuhe Kesselpauken in Salzburg und telematische Marimba in Dornbirn.

In Dornbirn interagierte Andres Bosshard mit dem Sprecher in Innsbruck und kontrollierte zugleich die Mischung von Raumakustik und Sendesignal.

Mittels vereinbarter Zeichen steuerten die MusikerInnen den Ablauf der Performance. Beispielsweise wurden die Sprecher angewiesen, bestimmte Texte zu bringen oder die anderen MusikerInnen aufzufordern, ein Solo zu begleiten. Andres Bosshards differenzierte Raummikrofonierung erlaubte es, die gesamte räumliche Situation an allen drei Orten wahrzunehmen. Durch diese Vernetzungen wurden die physischen Entfernungen durchlässig. Die MusikerInnen agierten also, wie es Gerfried Stocker ausdrückt, "über die Tiefe der geografischen Entfernungen hinweg in einem Raum, der keine andere Grenze kennt als die der Ausbreitungsgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen."

Chipradio konfrontierte das Massenmedium Radio mit der Realität interkommunikativer Netze, um in diesem Spannungsfeld die Möglichkeiten beider Medien auszuloten.

1992 bis 1994 wurde ZERO-Net, eine internationale Kunst-Mailbox/Datenbank, von Robert Adrian X, Seppo Gründler, Gerfried Stocker und x-space entwickelt und aufgebaut.

Realtime
Realtime, 1993

Als Weiterentwicklung des Chipradio sollte 1993 das Projekt Realtime nun auch für das Medium Fernsehen umgesetzt werden und gleichermaßen den Fernseh- wie den Radioraum bespielen.

Gesendet wurde live, synchron in Radio und TV.

Realtime war eine Kollektivkomposition, an der Isabella Bordoni, Andres Bosshard, Kurt Hentschläger, Horst Hörtner, Michael Kreihsl, Roberto Paci Dalò, Waldemar Rogojsza, Martin Schitter, Hans Soukup, Gerfried Stocker, Tamas Ungvary und Mia Zabelka beteiligt waren. Die drei architektonisch identen Foyers der Landesstudios Innsbruck, Linz und Graz wurden - wie bei "Chipradio" - miteinander vernetzt, aber diesmal auch über das Medium Fernsehen. Für die Visualisierung der Interaktionen zwischen den in den drei Landesstudios versammelten AkteurInnen wurden eigene Körperinterfaces und Roboter entwickelt und gebaut.

Für die Live-Sendungen, die parallel in Radio und Fernsehen ausgestrahlt wurden, wurden die drei Studios untereinander zu einem ringförmigen Datennetz zusammengeschaltet.

Im Radio war Realtime aber nicht lediglich die Stereoversion des Fernsehtons, ebenso war Realtime am Fernseh-Monitor nicht einfach das Bild zum Ton. Für das Konzert bildeten die beiden sonst getrennten Senderäume des Fernsehens und des Radios einen gemeinsamen, vernetzten Raum.

Die eigentliche Bühne von Realtimes aber war der "telematische Raum" der Kommunikations- und Sendemedien.

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