SONNTAG, 26. September 2004, 23:05. - 23:45, Ö1

KUNSTRADIO - RADIOKUNST





H.P. Show - Underwater Special

Re-Inventing Radio II / Historische Serie:
Radio als Ort, Kontext und Gegenstand von Kunst
Teil 4 - Zeitgleich

Eine 7-teilige Serie im Ö1-Kunstradio und bei Kunstradio on line.
Sendegestaltung: Andrea Sodomka
Sprecher: Martin Pieper
Regie: Elisabeth Zimmermann
Technik: Karl Kosz

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http://stream.mur.at:8000/kunstradio/mp3/2004B/MP3/26_09_04.mp3


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In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten sich Kunstformen, die sich von greifbaren Objekten entfernten - eine bildende Kunst in der Zeit. Kunstformen, die als Konzept, als Skizze, als Partitur, als Text existierten mußten nicht immer unbedingt ausgeführt werden. Strategien und Techniken, wie die des Readymades - des Versetzens eines vorgefundenen Objekts in den Kunstkontext -, der Collage, der Montage, des Cut/Up wurden zu selbstverständlichen Ausdrucksformen dieser Kunst.

Viele KünstlerInnen, die ursprünglich im Kontext der bildenden Kunst arbeiteten, beschäftigten sich nun auch mit Klängen, Geräuschen und Sprache als Material für ihr Werk. Der Radioraum als Ort für diese immateriellen, grenzüberschreitenden Skulpturen gewann immer mehr an Bedeutung.
In die konzeptuelle Kunst der 60er Jahre fließen aber auch Fragestellungen über die Bedingungen ein, die die Benutzung dieser Materialien mit sich bringen: Fragen über die Position von KünstlerInnen in der Gesellschaft, über den Kontext von Kunst sowie über Produktions- und Distributionsbedingungen von Kunst.
Vor allem aber begannen KünstlerInnen sich mit dem Raum auseinanderzusetzen: gesellschaftliche Räume, institutionalisierte Räume, öffentliche Räume, private Räume und Medienräume rückten ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Und sie positionierten ihre Kunst immer bewusster in diesen Räumen.

Der amerikanische Klangkünstler Max Neuhaus vertrat die Meinung, Musik müsse in erster Linie vom Raum ausgehen. Er arbeitete gegen die vorherrschende Auffassung, diese sei eine rein zeitabhängige Kunstform und schuf damit eine neue Art von Raum: die Klanginstallation. Zum ersten Mal war Klangkunst nicht mehr ausschließlich Zeitkunst, sondern auch Raumkunst.

Sein erstes Radiostück "Public Supply I" von 1966 schuf Neuhaus für die New Yorker Community Radiostation WBA1 live im Studio des Senders. Er verwendete dazu das größte damals existierende Netzwerk – das Telefonnetz. Mit Hilfe einer selbst entwickelten technischen Vorrichtung konnte er Anrufe, die auf zehn im Studio vorhandenen Telefonen ankamen, zusammenmischen. Wenn AnruferInnen ihr Radiogerät eingeschaltet hatten, verwendete er auch die dadurch entstehenden Rückkopplungen. Dieser Mix aus Geräuschen, Lauten und Sprache wurde gesendet. Die HörerInnen wurden somit zu MitgestalterInnen und ausführenden MusikerInnen einer Komposition, die Neuhaus erstmals live im Radioraum entstehen ließ.

"Mir wurde klar, dass ich mit dem Telefon eine wichtige Tür zum Senderaum aufstossen konnte: Wenn ich im Studio Telefonleitungen legte, könnte jeder von jedem Telefon aus diesen Raum akustisch betreten. Damals gab es noch keine Livesendungen, bei denen man anrufen konnte. […] Auch wenn ich diese Gedanken 1966 noch nicht artikulieren konnte, erscheinen mir diese Arbeiten heute […] als Aufforderung zur Rückkehr zu einer Musik, die in Vergessenheit geraten ist und die vielleicht der Ursprung allen menschlichen Musizierens ist: nicht die Produktion eines Musikerzeugnisses für Zuhörer, sondern die Schaffung eines Dialogs ohne Sprache, eines Dialogs der Klänge."
Max Neuhaus über "Public Supply", Zeitgleich

Mit "Drive-In Music" verwirklichte Max Neuhaus 1967 als einer der ersten die Idee einer Klangarbeit im öffentlichen Raum und realisierte damit die erste Klanginstallation. Am Lincoln Parkway in Buffalo, New York, installierte Neuhaus 20 lokal begrenzte Radiosender, die verschiedene Klänge sendeten. Die Klangstrukturen veränderten sich mit Umwelteinflüssen wie etwa der Helligkeit. Die Autofahrer auf dem Lincoln Parkway hörten je nach Fahrgeschwindigkeit oder Fahrtrichtung, je nach der Tageszeit oder Wetterlage unterschiedliche Klangmischungen. Doch nicht nur synthetisch erzeugte Klänge, sondern auch die an diesem Ort vorhandenen Geräusche sind Teil der komplexen Klanginstallation im öffentlichen Raum.
Im Projekt "Radio Net" aus dem Jahr 1977 verwendete Neuhaus ebenfalls Telefonanrufe als Material; diesmal wurden diese Sounds aber sie mit vollautomatischen Mischpulten gesteuert, zusätzlich kam die landesweite Ringleitung des amerikanischen Senderverbundes NPR, das National Public Radio Network, zum Einsatz. Neuhaus verwendete dieses Netzwerk, um die Sounds zirkulieren zu lassen, anstatt sie nur von einem Sender zum nächsten zu übertragen. Durch die Mixes und Feedbackschleifen entstand ein riesiger Klangtransformator oder, wie es Neuhaus nannte, eine Art Lebewesen, das aber leicht außer Kontrolle geraten konnte. Neuhaus' Aufgabe war es, diese Prozesse mit so wenig Eingriffen als möglich im Gleichgewicht zu halten.

Zur selben Zeit bildete sich Kanada eine äußerst lebendige Radiokunstszene. Diese Radiokunst fand fast ausschließlich ausserhalb der großen Rundfunkanstalten auf den Frequenzen von Universitäts- und Community Radios im vorwiegend lokal-regionalen Radiobereich statt. Künstler wie Murray Schafer, Maryanne Amacher, lan Murray, Hildegard Westerkamp, Hank Bull, Dan Lander, Michael Snow, G. X. Jupiter Larsen und viele andere waren ihre Entwickler, Theoretiker und Ausführende.

Zu den wichtigsten Pionieren der kanadischen Radiokunstszene zählt Ian Murray. Er war einer der ersten, die sich dafür einsetzten, dass Kunst im Radio nicht nur Dokumentation oder Vertonung eines Kunstwerkes, sondern als eigenständiges Werk zu behandeln sei.
lan Murray betrachtet seine Arbeit mit Fernsehen und Radio ausdrücklich als Teil seiner Tätigkeit als bildender Künstler. Für ihn ist sie Kunst im öffentlichen Raum. Er hat sich mit vielen Aspekten der Arbeit bildender KünstlerInnen in den Medien beschäftigt, auch mit den finanziellen und rechtlichen Veränderungen, die sich daraus ergaben. Und er thematisierte viele Problemstellungen, die eine Folge der Beschäftigung mit den neuen Medien sind, wie etwa die sich verändernden Begriffe des Originals, des Unikats und der Autorenschaft.
1970 montierte Murray die ersten zehn Sekunden der hundert Number-One Radiohits der vergangenen zehn Jahre zum Stück "Topsong". Er bezog sich dabei auf die wiederholte Aussage von Radioproducern und Disc-Jockeys, dass die ersten zehn Sekunden eines Stückes entscheidend seien, ob eine Aufnahme ein Hit wird oder nicht.

Murray über seine Radioarbeiten:
"Was das Radio betrifft, so betrachte ich meine Arbeit als bildhauerisch. Ich behandle das Radio als Gegenstand der Bildhauerei, in dem gleichen Sinne, wie Künstler auch andere populäre Materialien oder Readymades in ihre Arbeit einbeziehen, die schon vorher als kulturell angesehen werden. Es gibt Künstler, die Bücher oder Schallplatten und andere kulturelle Objekte in den Bereich der Bildhauerei einführen. Für mich ist Radio in erster Linie ein Medium der Skulptur und erst in zweiter Linie ein Distributionsmittel, denn in einem gewissen Sinne ist ja jedes skulpturale Medium ein Mittel der Distribution. Die Arbeit mit Radio bringt einige der gleichen Probleme mit sich, wie sie sich Künstlern stellen, die Plastiken für den öffentlichen Raum machen. Radioarbeit unterscheidet sich von dieser Bildhauerei im öffentlichen Raum dadurch, dass man das Radio erst einschalten muss, und sie ähnelt der Bildhauerei im öffentlichen Raum darin, dass sie sehr zugänglich ist, und zwar über ein breites Spektrum kultureller Situationen hin. Die Radioarbeiten sind ein Versuch, sich als Künstler mit einem Medium auseinanderzusetzen, wie sich Maler mit der Flachheit einer Oberfläche oder mit der Beziehung zwischen dem Zentrum und dem Rahmen eines Bildes auseinandergesetzt haben. Wenn man sich mit zeitgenössischen Medien beschäftigt, hat man es mit Systemen von Einfluss und Macht zu tun, die sich über ein Land ausdehnen. Das ist selbstverständlich politisch, aber diese Art von Arbeit erfordert auch eine Reihe von formalen Entscheidungen."

Murray ist der Ansicht, dass sich vor allem KünstlerInnen aus dem Bereich der bildenden Kunst für die Strukturen von Radioproduktionen interessieren. Mit seinem Projekt "Radio by Artists" versuchte Murray der Radiokunst zu mehr Popularität zu verhelfen. Von 1978 bis 1980 produzierte er insgesamt zehn Tonbandkassetten mit Arbeiten bildender KünstlerInnen für und mit dem Medium Radio.
Was der frühen kanadischen Radiokunst bei allen unterschiedlichen Ansichten und Herangehensweisen an das Medium Radio gemein war, ist die Vorstellung einer Kunstform, die über das reine Berichten über Kunst oder die bloße Sendung eines vertonten Kunstwerkes hinausging.

Beispielhaft sind hierfür Michael Snows Kurzwellenradiostücke:
"Einige Jahre lang habe ich immer wieder Kurzwellenradio-Konversationen gemacht. Man kann auf einem Kurzwellenradio richtig spielen, so viel passiert da fortwährend: Nicht nur, wenn man eine Station erwischt, Moskau z. B., sondern auch zwischen den Stationen. Da gibt es Satellitengeräusche, den Schiffsfunkverkehr und viele andere seltsame Geräusche. Es ist fast wie ein Synthesizer. […] Ich verwendete Radio für das Radio … Radio ist ein Instrument … ."

Auch Hank Bulls und Patrick Readys "H.P. Undersea-Show" können diese Haltung verdeutlichen:
"Wir begannen die H.P.-Show mit der ausdrücklichen Absicht, Radiokunst zu machen. Mit der Absicht, in eine gegebene gesellschaftliche Institution einzudringen, in diesem Fall die Institution Radio, und diese Institution zum Ort von Kunst zu machen … Unsere Vorstellung war, dass es sich dabei um eine Kunst handelt, die nicht durch den Kunstbetrieb hindurch muss, sondern direkt von den Künstlern, den Produzenten zu den Hörern gelangt. Bei der Radiokunst gibt es natürlich einen gesellschaftlichen Aspekt: Es handelt sich um Kunst im öffentlichen Raum, um Kunst für alle … ."

Der Text der Show wurde, wie der Name schon sagt, unter Wasser aufgenommen.

Ein Pionier auf dem Gebiet der internationalen Klangforschung war der Kanadier Murray Schafer. 1971 gründete er in Vancouver das World Soundscape Project, dessen Ziel es war, die wissenschaftlichen, soziologischen und ästhetischen Aspekte unserer akustischen Umwelt zu untersuchen. Es führte in der Folge zu einer Reihe von weltweiten Untersuchungen über akustische Wahrnehmung, Klang-Symbolik und Lärm-Verschmutzung.

Die erste Feldstudie des World Sound Projects wurde 1973 veröffentlicht: die Vancouver Soundscape.
1977 veröffentlichte Schafer "The Tuning of the World" und fasste darin seine jahrelangen wissenschaftlichen Arbeiten als Klangforscher an der Simon-Frazer-University in Vancouver zusammen. Er prägte Begriffe wie "akustisches Design", "akustische Ökologie" und "Soundscape".

"To record sounds is to put a frame around them. Just as a photograph frames a visual environment, which may be inspected at leisure and in detail, so a recording isolates an acoustic environment and makes it a repeatable event for study purposes. The recording of acoustic environments is not new, but it often takes considerable listening experience to begin to perceive their details accurately. A complex sensation may seem bland or boring if listened to carelessly. We hope, therefore, that listeners will discover new sounds with each replay of the records in this set – particularly the first record, which consists of some quite intricate environments. It may be useful to turn off the the room lights or to use headphones, if available. Each of the sequences on these recordings has its own direction and tempo. They are part of the World Symphony. The rest is outside your front door."
R. Murray Schafer

1977 entstand auch in Österreich, initiiert von Heidi Grundmann, ein Forum für Radiokunst: die "Kunst zum Hören" in dem, meist in Ausschnitten, Arbeiten von internationalen und bald auch österreichischen KünstlerInnen gesendet wurden.
Ihrer Tätigkeit für "Kunst heute", das ab 1976 aktuelle Themen internationaler zeitgenössischer bildender Kunst auf Österreich 1 in der monatlichen Sendereihe präsentierte verdankte Heidi Grundmann regen Kontakt zu RadiokünstlerInnen, die in Kanada, Australien und den USA tätig waren. 1979 luden Heidi Grundmann und Grita Insam von der Modern Art Galerie einige jener RadiokünstlerInnen nach Österreich ein, wo diese in einer Ausstellung und Performance-Reihe mit dem Titel "Audioszene '79. Sound als Medium der bildenden Kunst“ die Gelegenheit hatten, erstmals in Wien sowie bei einem Symposium auf Schloß Lengenfeld in Niederösterreich ihre Arbeiten und Definitionen einer Radiokunst vorzustellen.

Der amerikanische Künstler Terry Fox, Teilnehmer der "Audioszene '79", produzierte 1972 das Stück "Labyrinth scored for the purrs of 11 cats“. "CatPurrs" war die erste Arbeit von Terry Fox mit aufgezeichneten Tönen. Sie war Teil seiner Auseinandersetzung mit dem aus 11 konzentrischen Kreisen bestehenden Labyrinth auf dem Boden der Kathedrale von Chartres: Für jeden Kreis nahm Terry Fox 8 Minuten ununterbrochenes Schnurren einer Katze auf. Die Aufnahmen wurden dann so aneinandergereiht, dass sie dem Weg durch das Labyrinth entsprachen, wobei jede Katze einen der Kreise darstellte und das Stück schließlich eine Dauer von 90 Minuten erreichte.
Obwohl das Stück ursprünglich nicht als Radiostück konzipiert war, meinte Fox später, dass es besonders gut für dieses Medium geeignet sei. Die Ausstrahlung des Stückes verstieß damals jedenfalls gegen alle Konventionen des Radios. In voller Länge wurde "Labyrinth scored for the purrs of 11 cats“ von KPFA in Berkeley gesendet – allerdings erst bei einem zweiten Anlauf. Beim ersten Versuch gab es so viele durch das lange Schnurren aus dem Radio irritierte HörerInnen, dass die Sendung nach 45 Minuten abgebrochen werden musste.
Einem – ebenfalls zum Teil irritierten – österreichischen Publikum wurde die unkonventionelle Arbeit in der Sendung "Kunst zum Hören" von Heidi Grundmann vorgestellt.

"Ein wesentliches Movens für die Arbeit von Autoren der unterschiedlichsten Herkunft für das Radio ist die Bildkraft dieses Mediums. Auf geradezu exemplarische Weise werden hier Duchamps Sätze von der Fertigstellung des Kunstwerks durch den Rezipienten, von den Bildern, die nicht auf der Netzhaut, sondern im Kopf entstehen, belegt."
Heidi Grundmann: Radiokunst, Im Netz der Systeme

Angeregt durch die neue Plattform der "Kunst zum Hören“ und durch die Information über internationale Tendenzen im Bereich der Radiokunst entstanden in der Folge auch in Österreich zahlreiche Radiokunstproduktionen.
Simultaneität, Vernetzung und Interaktivität und die Hörerbeteiligung wurden immer wichtigere Gestaltungsmerkmale der Radiokunst. Ein bedeutender Künstler, der auch den Begriff der Soundscape mitprägte, ist der amerikanische Klangkünstler Bill Fontana.

Bill Fontana, in einem Interview mit Heidi Grundmann für "Kunstradio-Radiokunst" im März 1988:
"Beim Lesen von Duchamps Anmerkungen zu seinem 'Grossen Glas' wurde mir klar, dass ich einen Klang wie einen Gegenstand behandeln kann, der sich in der Zeit ausdehnt und den man von einem Raum in einen anderen stellen kann.
Es hat mich nie interessiert, Klänge in eine Galerie oder ein Museum zu stellen. Mir ging es darum, sie in den öffentlichen Raum zu bringen, wo sie mit dem bestehenden akustischen Kontext interagieren können. So, dass eine Art Dialog zwischen dem Klang und der Situation entsteht … Das Medium Radio erschien mir als eine Erweiterung meines Interesses am öffentlichen Raum. Bei einer Soundskulptur oder Installation nehme ich einen Klang und stelle ihn in eine neue Situation. Mit Hilfe des Radios kann ich diesen Klang gleichzeitig in tausende von unterschiedlichen Situationen bringen. Dieses Medium gibt mir die Gelegenheit, viele verschiedene Versionen derselben Arbeit zu machen: jede einzelne Version ist einzigartig."

Bei der Ars Electronica 1989 in Linz rekonstruierte Bill Fontana seine erste Radioarbeit, "Music from Ordinary Objects". 1977 hatte er sie in Australien realisiert:
Vor dem Live-Event wurden HörerInnen gebeten, ihnen interessant scheinende Klänge aufzunehmen und die Aufnahmen einzusenden oder über das Telefon einzuspielen. Fontana nahm diese Geräusche auf Endlosbändern auf, spielte sie auf Stereotonbandgeräten und mischte das Gesamte zu einer Live-Komposition. An den von den RadiohörerInnen übermittelten Klängen wurde nichts verändert; Veränderungen ergaben sich durch den neuen Kontext und durch die Mischung unterschiedlich langer Tonbandschleifen. Damit gab Fontana den HörerInnen die Möglichkeit, den Klangcharakter seiner Live-Mischung selbst mit zu bestimmen.

Bill Fontana:
"Alle meine Klangskulpturen sind experimentelle Situationen in öffentlichen Räumen, die sich mit der Bedeutung von Klängen zum jeweiligen Zeitpunkt auseinandersetzen. Formal geht es darum, Klänge aus der Umgebung wie Fundgegenstände in unerwartete Situationen zu versetzen. Diese werden sowohl in öffentlichen Räumen als auch in den vielen nebeneinander bestehenden akustischen Räumen, die durch Radiosendungen geschaffen werden, hergestellt."

1988 realisierte Bill Fontana "Sonic Projections from Schlossberg Graz" als Teil der Ausstellung "Bezugspunkte 38/88". An acht Orten im öffentlichen Raum der Stadt Graz, die bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1938 eine Rolle gespielt hatten, brachte Fontana Mikrophone an. Im Renaissancehof des Landhauses – einen weiterem topographisch-historischen Bezugspunkt – wurden die Sounds zu einer Klangskulptur gemischt, die sich live in den Radioraum ausdehnte, einen ganzen Tag hindurch immer wieder im Programm Österreich 1.

Bill Fontanas Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Simultaneität, des sich via Live-Schaltung gleichzeitig an zwei oder mehreren Orten Befindens, fand im Projekt "Klanglandschaften/Landscape Soundings" einen Höhepunkt. Direkt von den Donau-Auen wurden Soundscapes live auf den Wiener Maria-Theresien-Platz sowie ins Radio projiziert.

"Zeitgleich" eine Ausstellung und Symposium veranstaltet von Heidi Grundmann, dem Verein TRANSIT und dem ORF versammelte viele dieser Klangkünstler, unter anderen Bill Fontana, Max Neuhaus, Andres Bosshard, Ros Band und Alvin Curran.

Letzterer lieferte einen wichtigen Beitrag zu einer Radiokunst, die sich mit Gleichzeitigkeit und Vernetzung beschäftigt, insbesondere mit seiner Arbeit "Crystal Psalms“. 1988, das Jahr in dem sich die sogenannte "Reichskristallnacht" zum 50. Mal jährte, wurde das Stück zum Gedenken an die Geschehnisse im Jahr 1938 aufgeführt und von 7 europäischen Radiostationen simultan live übertragen.

"Crystal Psalms“ ist ein Konzert für sechs Chöre, sechs Instrumentalensembles, Schlagzeug, Akkordeons und Tonband. Die Chöre und Ensembles, die an dem Live-Konzert mitwirkten, befanden sich an weit auseinander liegenden Orten: in Berlin, Kopenhagen, Frankfurt am Main, Paris, Wien und Rom. Curran erstellte eine genaue Partitur, nach der die unterschiedlichen Performer an den verschiedenen Orten des Konzertes agierten. Alvin Curran selbst saß in Rom in einem Studio der italienischen Rundfunkanstalt RAI und mischte die aus den verschiedenen Städten zeitgleich eintreffenden Klänge zu einer Live-Komposition, die wiederum von den beteiligten Rundfunkanstalten zur selben Sendezeit ausgestrahlt wurde.

Alvin Curran über "Crystal Psalms":
" … ein reales und symbolisches Zusammenkommen von vielen Menschen an vielen verschiedenen Orten, Menschen, die sich weder sehen noch hören, aber miteinander ein Stück aufführen, ein Ereignis, wie es nur im Radio passieren kann … Es ist eine radiophone Verbindung, die die Menschen zumindest für den Augenblick in denselben akustischen Raum bringt und sie mehr als nur symbolisch zusammenführt. Selbst wenn sie es nicht wissen, bringe ich sie in totale Harmonie miteinander. In diesem Sinne ist Radio ein unglaubliches Instrument …"

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