SONNTAG, 27. November 2005, 23:05. - 23:45, Ö1

KUNSTRADIO - RADIOKUNST


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LITERATUR ALS RADIOKUNST:

» I. Papa, short version
» II. Terrorema. Unter meiner Haut beginnt das befreite Gebiet

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Radio, das ist die ortlose Stimme. Terrorismus, das ist die peinliche Zerstörung einer Illusion von Virtualität. Anhand zweier Not-Fallbeispiele der ENTFÜHRUNG fokussieren die neuen Produktionen der Reihe «Literatur als Radiokunst» im KUNSTRADIO die (symbolischen) Körper hinter der «disembodied voice». Aus der Sprechsituation einer Geisel entwickelt Birgit Kempker mit dem fiktiven Lösegeld-Appell einer Tochter an ihren Vater ein perfides Sprachspiel ödipaler Verstrickung. Umgekehrt kartiert die Textcollage, welche Hanno Millesi aus den Kassibern, Kampfparolen und medialen Dokumenten rund um die RAF und die Schleyer-Entführung komponiert hat, das Referenzgewebe von Tätern, welche sich ihrerseits – Stichwort «Stammheim» – als Geiseln des Rechtsstaats empfanden. Ob - wie Birgit Kempkers «Papa, short version» - monologisch oder in der polyphon-flächigen Auflösung von Hanno Millesis «Terrorema»: Am Laut-Werk sind – ohne Zuspielungen oder Fremdgeräusche – ausschließlich die Stimmen der Künstler. In 5.1. Surround via OE1DD.

(Christiane Zintzen, Kuratorin)



I. Papa, short version

von Birgit Kempker

Text + Stimme: Birgit Kempker
Technik: Franz Ahamner, Christian Sodl, Karl Petermichl

Die Auslösung der Tochter durch den Vater (als lebenslängliches Unternehmen) endet nicht.

Die Auslösung der Tochter durch den Vater ist nicht umsonst.
Die Auslösung der Tochter durch den Vater ist nicht zu haben.
Die Auslösung der Tochter durch den Vater ist ein Wunsch, der Preis ist hoch.

Kopfgeld und Gefangenschaft. Transpersonales Kopfgeld, transportable Gefangenschaft.
Ohne Auto und Radio wäre diese Geschichte nicht zu haben.

Wenn ich jemanden erhöre (biblisch: liebe), löse ich ihn aus.
Ich löse ihn aus, dass er überhaupt ist.
Ich löse ihn auch aus sich selbst heraus aus
in ein Erkanntwerden:

ja, ich höre dich, du bist es, es gibt dich. Etc.

Es ist auch ein ( mehrsprachiger, denn, wer weiß in welcher Sprache dieser Vater spricht, die Chancen steigen mit dem Überschreiten der Grenzen) Versuch, einen Vater zu finden, ein notwendiger ( die Not ist groß, die Finger werden abgehackt) - zu er-finden.
ERFINDUNG SELBST. ERFINDUNG als Antwort auf das Findelkindsein.
Federkleid.
Moses im Körbchen. Ich glaube, dass Erfindung nicht ohne ein ER geht. EinEr in mir, ein anderer. Mein Papa.


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II. Terrorema. Unter meiner Haut beginnt das befreite Gebiet

von Hanno Millesi

Text+Stimme: Hanno Millesi
Technik: Martni Leitner, Markus Gassner

Bei „Terrorema“ handelt es sich um eine Textcollage, die mit der Synchronisation verschiedener Tonspuren arbeitet, welche von sechs unterschiedlichen Quellen gespeist werden. Im Zentrum dieses Konvoluts stehen Auszüge so genannter Kassiber, wie sie Mitte der 70er Jahre zwischen den inhaftierten Mitgliedern der rote armee fraktion kursierten. Zu diesen Statements, die als eine Art Verzweiflungsbarometer gelesen werden können, finden sich Schlagzeilen einer Artikelserie einer Auflagen starken Illustrierten jener Zeit gemischt sowie Zitate, die von den schreibenden Terroristen in ihren Briefen verwendet werden. Hinzu kommen noch Auszüge aus Melvilles Moby Dick, welches zur bevorzugten Lektüre der einsitzenden Terroristen gehörte. Das Ganze wird von einer strukturierenden Klammer umfasst.
Vergleichbar dem marktschreierischen, auf den sensationslüsternen Geist des Durchschnittsbürgers abzielenden, keinesfalls überfordernden Jargon der Illustrierten, hat sich unter den revolutionären Kadern der linksradikalen RAF ebenfalls eine spezifische sprachliche Identität herausgebildet. Zuvor nahezu ausschließlich von Bekennerschreiben und so genannten „Strategiepapieren“ bekannt, erhält sie im Motivation spendenden Auftrag während der Isolationshaft eine menschliche, eine verzweifelte Dimension. Zeigt sich das Illustriertenpublikum von seiner, unterhaltungsversessen an der Realität vorbeiblickenden Seite, so flüstern sich die Sträflinge Aufmunterungsparolen zu, die allesamt auf einen Vernichtungskrieg hinauslaufen. (Hanno Millesi)



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