LIGNA: Nacht. Stimme. Zerstreuung.

Das folgende Stück ist ein Monolog für einen Sprecher in einem Studio. Es handelt sich um das Studio RP4 des Kunstradio im ORF. Es ist Sonntag Nacht. Ein Studio ohne Fenster. In dem Studio steht ein Tisch mit zwei Leselampen, die beide angeschaltet sind. Ansonsten ist das Studio dunkel. Auf dem Tisch ist ein Sprechermikrophon, das mit Beginn der Sendung offen ist, und ein Kopfhörer. Daneben befinden sich desweiteren eine Flasche Wasser und ein leeres Glas, ein ausgeschaltetes Radio, das so auf Mittelwelle eingestellt ist, dass es keinen Sender empfängt, sowie ein Kofferplattenspieler. Ein ausgeschaltetes Funkmikrophon ist auch vorhanden. Die graue Platte Still von Joy Division steht an den Tisch gelehnt. Wenn Nacht. Stimme. Zerstreuung. von dem Moderator angesagt worden ist, ist das Studio leer. Der Sprecher öffnet nach der Ansage die Tür und betritt das Studio. Er schließt die Tür hörbar, geht die Schritte zu dem Tisch, unter den ein Stuhl geschoben ist. Er zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor und läßt sich auf ihm nieder. Dann nimmt er den Kopfhörer und setzt ihn sich auf. Er schaut zur Tür. Rechts ist die Regie, links die Empore. Auf dem Tisch liegt das Skript der Sendung. Absätze kennzeichnen Pausen. Er räuspert sich und beginnt zu sprechen. Es kann deutlich werden, dass er den Text nicht frei spricht.

Guten Abend, liebe Hörerinnen und Hörer des Kunstradios. Ich freue mich, dass sie eingeschaltet haben. Sie hören Nacht. Stimme. Zerstreuung. Es ist Nacht. Sie hören meine Stimme. Sie sind zerstreut. Das ist alles.

Nicht ganz.

Es ist nicht so einfach, wie es scheint.

(zögernd) Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Helmut Bohatsch - Wie heißen Sie?

(Pause als würde er auf eine Antwort warten)

Ihren Namen werde ich nie erfahren.

Wenn ich es recht überlege, ich könnte mir alle Ihre Namen auch gar nicht merken. Und sicher schalten immer wieder einige von Ihnen das Radio ab oder wechseln die Stationen - andere schalten zu. Ich werde Sie in den folgenden vierzig Minuten leider weder verabschieden noch begrüßen können. Radio ist ein unhöfliches Medium. Aber das läßt sich zumindest jetzt kurz ändern: Ich lade Sie herzlich ein, wo immer Sie gerade sind, dem Radio zuzuhören.

Herzlich Willkommen bei Nacht. Stimme. Zerstreuung! Sie kennen mich nicht, aber Sie können mich hören. Ich spreche zu Ihnen aus dem Studio RP4, aus diesem Studio sendet das Kunstradio schon seit vielen Jahren. Sie haben vielleicht schon die eine oder andere Sendung aus diesem Studio gehört, doch wissen Sie auch wie es aussieht?

Wenn Sie können, schließen Sie doch kurz die Augen und stellen Sie sich den Raum vor. Wie groß ist er? Welche Farbe haben seine Wände? Mit welchem Mobiliar ist dieser Raum ausgestattet? Ist es ein angenehmer Raum? Malen Sie sich den Raum aus!

Haben Sie nun ein Bild von dem Ort, an dem ich jetzt spreche? Sehen Sie, was ich sehe?

Öffnen Sie die Augen bitte wieder: Welche Elemente mögen den Raum, in dem Sie jetzt gerade Radio hören, mit dem Raum, in dem ich jetzt spreche, verbinden? (Er hält kurz inne und schaut sich in dem Raum um.) Haben Sie ebenfalls eine elektrische Lampe an? Ist Ihr Raum rechteckig? Gibt es einen Tisch? (resümierend) Ich möchte behaupten, dass dies alles Gemeinsamkeiten sind. (Er entdeckt die Radios auf dem Tisch.) Und Sie haben natürlich ein Radio. Ich habe auch eines, nur ist meines nicht eingeschaltet. (Er schaltet das Radio an. Es ist auf eine Mittelwellefrequenz eingestellt, auf der es nur Rauschen gibt.) Mittelwelle. (Er dreht an dem Rad und sucht einen Sender, bis er einen findet und hört auf den Klang.) Es klingt anders. Hören Sie? (Er stellt das Radio etwas lauter und hört zu. Dann dreht er es wieder aus). Klingt es schlechter als das, was Sie gerade hören? Weniger natürlich? (Er schaltet ds Radio wieder an, läßt es eine Zeit laufen und schaltet dann das Radio aus.) Schauen Sie bitte auf Ihr Radio: Klingt meine Stimme natürlich? Natürlicher als der Mittelwellesender?

Vergleichen wir nocheinmal. Jetzt hören Sie meine Stimme und jetzt (er schaltet das Radio wieder an) hören Sie den Mittelwellesender. (Er stellt das Radio wieder lauter, dann wieder leiser. Lächelnd:) Erst wenn sich der Rundfunk vom Ideal des ‚natürlichen' Klangs emanzipiert, wird er aufhören, ‚unnatürlich' zu klingen. (Er stellt das Radio wieder lauter und hört eine Zeit zu. Wenn gesprochen wird, wartet er, bis die Musik beginnt; wenn Musik läuft, wartet er - allerdings nicht zu lang - bis diese zuende ist und stellt dann jeweils leiser.) Ich weiss nicht, aus welcher Nacht hier gesendet wird. Eine andere Nacht als meine Nacht. Andere Stimmen als meine Stimmen. Radiostimmen. Die Nacht ist die bevorzugte Zeit. Der Empfang ist besser. (Er schaltet das Radio aus.) Und man schaut nicht so genau. Das ist gut. Die Stimme hat wenig Konkurrenz.

Löschen Sie bitte das Licht in Ihrem Zimmer. Ich lösche auch das Licht im Studio. (Er schaltet eine der Leselampen hörbar aus. Die zweite Lampe gibt ihm weiterhin Licht.) Löschen Sie bitte alles Licht. (Er wartet kurz.) Ich habe Zeit. Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, ist nur sinnvoll, wenn Sie es im Dunkeln hören. Schalten Sie also bitte alles Licht aus, so dass Ihre Wohnung nur durch meine Stimme erhellt wird.

Aber meine Stimme ist kein Licht, werden Sie denken.

Setzen Sie sich bitte wieder und schauen Sie auf Ihr Radio.

Leuchtet es?

Sie hören eine Ausstrahlung. Sie hören meine Stimme. Es ist Nacht. Der Sender strahlt meine Stimme aus. In jedem Moment, in dem ich spreche, verwandelt sich meine Stimme, wird in Echtzeit, also jetzt und jetzt und jetzt an Sie und alle anderen Hörerinnen und Hörer verteilt und verwandelt sich in das, was Sie hören, meine elektromagnetisch vervielfältigte, meine akustisch verbreitete Stimme. Ihr Radio strahlt meine Stimme aus. Das alles geschieht schneller als ich sprechen kann und es passiert immer, ganz gleich, was ich sage. Die elektromagnetischen Wellen verteilen sich im Raum. Sie sind immer da. Auch wenn ich schweige.

(Er schweigt.)

Elektromagnetischen Wellen sind unsichtbar, im Hellen (er unterbricht sich für einen längeren Moment)  wie im Dunkeln.  Das ist sicher merkwürdig, aber noch merkwürdiger ist - so möchte ich behaupten -, dass Sie mich hören können. Deshalb ist es nicht gleich, was ich sage. Jedes Wort materialisiert meine Stimme in Ihrem Radio. Schweige ich (er schweigt), materialisiert sich die Stille des Studios. Sie haben sich an diese Materialisierung der Stimme und der Stille gewöhnt. Sie erscheint Ihnen ganz normal. Aber diese Normalität hat etwas Seltsames an sich. Sie ist merkwürdig.

(Er lächelt.) Prüfen Sie meine Behauptung. Ich möchte Sie zu einem kleinen Experiment einladen. Bitte stehen Sie dafür auf. Stellen Sie das Radio etwas lauter.  

Gehen Sie nun in einen anderen Raum ihrer Wohnung - aber lassen Sie bitte das Licht gelöscht.

(etwas lauter) Wie klingt meine Stimme nun?

(im folgenden alles laut) Klingt meine Stimme als ob jemand persönlich aus dem Nebenraum zu Ihnen spricht?

Hallo? Hören Sie?

Bleiben Sie bitte noch in dem anderen Raum.

Horchen Sie.

(Stille)

Was hören Sie?

(Stille)

Hören Sie das Surren des Kühlschranks?

(Stille)

Sind Ihre Nachbarn noch wach?

(Stille)

Passiert etwas auf der Straße?

(Stille)

Kommen Sie ruhig wieder etwas näher.

Was immer Sie hören - meine Stimme trifft keine reine Situation an. Sie vermischt sich vielmehr mit der akustischen Situation, in die Ihr Radio ausstrahlt. Sie hören immer mehr als mich.

Manche glauben, das Geheimnis des Radios liegt in der Unsichtbarkeit elektromagnetischer Wellen. Ich dagegen bin mir sicher, das Geheimnis ist die Zerstreuung meiner ausgestrahlten Stimme. Sie glauben mich zu hören. Schließlich spreche ich jetzt, in diesem Moment zu Ihnen. Das ist wahr. Es ist keine Aufzeichnung. Es ist live. (Er atmet tief durch, schenkt sich etwas Wasser in das Glas und trinkt hörbar. Er setzt das Glas wieder ab.)

Sie hören nicht meine Stimme, sie hören einen Doppelgänger meiner Stimme, sie hören eine von vielen gleichen Stimmen. Meine Stimme, ich höre sie selber kaum. Ich höre sie über den Kopfhörer. (fast rufend) Hören Sie mich?

Wie viele Doppelgänger meiner Stimme mag es geben? Begeben Sie sich bitte auf die Suche.

Schalten Sie ein Radio in einem anderen Raum ein. Wenn Sie kein zweites Radio haben, überlegen Sie, ob Sie nicht einfach eines vergessen haben? Vielleicht ist irgendwo eines eingebaut, wo sie grad nicht dran denken?

Können Sie meine Stimme auch in diesem Radio finden?

Verdoppeln Sie meine Stimme!

Vervielfältigen Sie meine Stimme!

Wenn Sie noch mehr Radios haben, schalten Sie auch diese an!

Benötigen Sie Licht? Machen Sie es dann gleich wieder aus. Das folgende Programm ist für mehr als ein Radio gemacht. Andernfalls bleibt Ihnen meine Stimme unverständlich.

Haben Sie die Radios an? Vielen Dank.

Wie klingen die Doppelgänger?

(Stille)

Bewegen Sie sich jetzt zwischen den Radios hin und her. Gehen Sie zu dem ersten Radio zurück und bewegen Sie sich dann bitte zu dem zweiten. Bewegen Sie sich duch die Wohnung und horchen Sie auf die Veränderungen des Klangs. Welche der Ausstrahlungen ist meine Stimme?

Was ich Ihnen jetzt sage, ist ohne Belang, ich spreche einzig, damit Sie die zerstreute Materialität meiner Stimme hören können.

Prüfen Sie nun, welche Lautstärke der Zerstreuung meiner Stimme am ehesten angemessen ist. Verstellen Sie die Lautstärken Ihrer Radios, bis Sie meine Stimme nicht mehr Orten können.

Gehen Sie in Ihrer dunklen Wohnung umher und lauschen Sie.

(Stille)

„Radikal wird die der Musik zukommende Raumneutralität zerstört erst im Radio. Man tritt aus dem Hause, die Musik des Lautsprechers tönt noch im Ohre, man ist in ihr - sie ist nirgends. Man macht zehn Schritte und die gleiche Musik tönt aus dem Nachbarhause. Nun, da auch hier Musik ist, ist Musik hier und dort, lokalisiert und in den Raum gepflanzt wie zwei Pfähle. Aber es ist ja die gleiche Musik: hier singt X, was er dort begonnen. Man geht weiter - am dritten Hause setzt X fort, vom zweiten X begleitet, vom vorsichtigen X des ersten Hauses leise untermalt. Was chockiert hier?

Die merkwürdig monarchischen, gegenseitig sich Lügen strafenden Ansprüche jeder dieser Doppel- oder Dreifachgänger, die Stimme selbst zu sein, die nun allerdings schon wieder nirgendwo ist, weil sie überall auftönen könnte.“

(Stille)

Jede meiner Stimmen, die Sie jetzt hören, ist meine Stimme. Meine einzige Stimme. Sie wird aus diesem Studio direkt in diesen einen Apparat übertragen. „Meine Stimme“: Es gibt viele Fiktionen, die größte Fiktion ist aber, dass ich mit meiner Stimme spreche, wenn Sie mich im Radio hören. Wer spricht? Die größte Fiktion ist, dass meine Stimme mir gehört.

Sie gehört niemanden.

Sie wird verteilt auf unzählbar viele Geräte, wo sie entscheiden, wie laut Sie in Ihrem Raum tönt.

Können Sie sich erinnern, wie Sie das erste Mal ihre eigene Stimme aus einem Kassettenrekorder gehört haben? Wie war das? Mochten Sie Ihre Stimme? Was meinen Sie, wie es mir erginge, wenn ich jetzt mit Ihnen zwischen den Radios säße? Ich könnte es nicht ertragen, das zu hören, was eigentlich mir gehört und ich könnte es nicht ertragen, zu erfahren, dass meine Stimme nicht mir gehört. Das ist unheimlich.

Machen wir ein weiteres Experiment. Kommen Sie zu einem der Radios. Setzen Sie sich hin.

Sagen Sie etwas zu mir.

(Er wartet.)

Ganz gleich was! Wenn Ihnen nichts einfällt, sagen Sie einfach: Das wundert mich nicht.

Sagen Sie es bitte. (Er wartet)

Warum sagen Sie es nicht laut?! Das wundert mich nicht! (Er wartet)

(ruft) Sagen Sie es laut! (Er wartet)

(schreit) Sagen Sie es laut! (Er wartet)

Was Sie sagen, gehört Ihnen nicht. Was Sie hören ist etwas anderes als Sie sagen. Die gesprochenen Worte sind im Raum. Sie kommen aus Ihrem Körper. Es ist ihre Stimme und es ist nicht ihre Stimme. Wessen Sprache?

Stehen Sie wieder auf. Gehen Sie noch einmal in der Wohnung umher.

Eine der ersten Regeln, die einem Rundfunksprecher beigebracht werden, ist, sich nur einen Hörer vorzustellen. Ja. Genau: Sie. Ich soll nur an Sie denken - und alle anderen vergessen. Es ist unheimlich, sich vorzustellen, dass die Stimme sich ohne mein Zutun vervielfacht. Ich spreche wie ich immer spreche - aber es macht Angst. Ich kann mir keinen einzelnen Hörer vorstellen. Ich frage mich ständig, was passiert jetzt mit meiner Stimme? Wie hören Sie sie? Ich weiß, Sie hören meine Stimme aus zwei Radios, aber wer sind ‚Sie'? Und wo sind Sie? Und haben Sie überhaupt zwei Radios? Sind es nicht mehr? Mehr Stimmen? Ich - (er stockt)

Welche meiner Stimmen gefällt Ihnen besser? Entscheiden Sie sich! Schalten Sie eine meiner Stimmen ab. Wenn mehrere Geräte laufen, schalten Sie auch diese ab, bis die gespenstischen Doppelgänger meiner Stimme auf einen reduziert sind.

(Er nimmt einen Schluck Wasser und wartet einen Moment ab.) Halten Sie Ihr Ohr bitte an das verbliebene Radio. Keine Angst, ich werde nicht mehr brüllen. (Er geht näher an das Mikrophon, seine Stimme wird intimer.) Fassen Sie das Radio an. Berühren Sie es mit Ihrer Hand. Es ist ein weiterer Versuch, der nur funktioniert, wenn Sie sich auf meine Bitte einlassen. Wie faßt sich der Apparat an? Ist er aus Plastik oder aus Metall? Ist es ein Küchenradio oder eine Hi-Fi-Anlage? Ist es grau oder schwarz?

(leise) Ich sehe Sie nicht. Ich spreche nicht, damit Sie mich sehen. Und ich bin ganz froh, dass Sie mich nicht sehen.

(betont) Alle, die jetzt mit Ihrer Hand das Radio berühren, sind durch diese Geste miteinander verbunden, ohne voneinander zu wissen.

(wie zu sich) Sie sehen einander nicht, sie sehen nur sich.

(feststellend) Es ist Nacht. Die Radios strahlen meine Stimme aus. Sie sind wie Sterne am Nachthimmel. Es kümmert sie nicht, ob sie jemand sieht. Ich sehe die Sterne nicht, das Studio hat kein Fenster. Es ist ein geschlossener Raum. Aber ich kann ihn verlassen. (Er setzt den Kopfhörer ab und steht auf.) Kommen Sie, begleiten Sie mich! Ich gehe hinaus. (Er geht zur Studiotür, öffnet sie und geht hinaus.) Ich bin heute schon so lange im Funkhaus, ich weiß nicht einmal, ob Sterne am Himmel zu sehen sind.

Öffnen Sie ihr Fenster bitte und schauen Sie mit mir zum Himmel hinauf.

Es ist Nacht. Sie hören meine Stimme. Die Sterne sind zerstreut.

Das ist alles.

Nicht ganz. Das Universum ist schwarz. Das Universum ist eine Stätte dauernder Katastrophen. Doch die Sterne kümmert das nicht. Sie strahlen ihr schwaches Licht in alle Richtungen aus. Aber das Universum bleibt dunkel. So viele Sterne auch leuchten, sie erhellen es nicht. Jedes Radio ist ein solcher Stern. Es strahlt meine Stimme aus, aber kann es das Universum ihres Alltags erhellen?

Zeigen Sie bitte auf einen der Sterne, vielleicht ihren Liebsten. Wenn die Wolken den Himmel verhüllen, zeigen Sie dorthin, wo Sie ihren Stern vermuten.

Sie kennen sich nicht und sind nur durch eine gleichzeitige, zerstreute Geste verbunden. Sie bilden eine Konstellation, sternengleich. Gäbe es eine Karte von allen, die jetzt meine Stimme hören, es wäre eine Sternenkarte. Auf dieser Karte ließen sich einzelne Sterne und ganze Galaxien entdecken - das merkwürdige Universum unseres Alltags. Doch während die Bilder der Sterne über die Jahrhunderte immer wieder neu gedeutet wurden und der große Wagen auch der große Bär sein kann, bleibt die gesellschaftliche Konstellation von Ihnen, liebe HörerInnen und Hörer, die Sie jetzt, mit mir, am Fenster stehen, ungedeutet. Sie hören meine Stimme, die niemandem gehört, und sie sehen die Sterne, die niemanden gehören. Die Sterne strahlen aus. Unentwegt. Sie achten nicht darauf, was ihnen gehört. Sie verschwenden ihr Licht in alle Richtungen. Ihr Licht läßt sich nicht verwerten. Das Licht ist schön.

(Er kehrt in das Studio zurück.) Zu welcher anderen Zeit als der Nacht könnte ich so zu Ihnen sprechen? In die leuchtende Schwärze hinein.

(Er setzt sich im Studio wieder hin und nimmt einen Schluck Wasser.)  

Nacht. Ich bin mit meiner Stimme hier allein in meinem Studio. Nur Sie, draußen, wo auch immer, an den Radiogeräten, sind bei mir. Ich mache mein Licht wieder an. (Er tut, was er sagt und stellt befriedigt fest:)

Der Strom fließt durch die Glühbirne, der Glühfaden erwärmt sich und beginnt zu leuchten. Der Strom fließt. Er verteilt sich in alle Haushalte. Er sprengt tendenziell von innen das bürgerliche Interieur. Strom, Gas, das Radio sind Vorformen zu Explosionen. Von einem ‚kleinen Drehen an der Schraube' hängt es ab, ob das Gas ausströmt, das Zimmer hell wird, das Radio quäkt. Aber diese Macht ist ganz abstrakt.

Es ist dies eine der ungelösten Fragen des 20. Jahrhunderts. Wie kann sich diese abstrakte Macht, an einer kleinen Schraube zu drehen, konkretisieren? Die Möglichkeiten zu handeln, haben sich vervielfältigt. Ständig kommen neue Apparate hinzu, die weitere Möglichkeiten bieten. Aber die Macht bleibt abstrakt und die Möglichkeiten, ihre Möglichkeiten liegen brach.

Verzeihen Sie, ich würde gerne fünfzehn Sekunden alleine sein. (verschmitzt) Was würde es bedeuten, wenn Sie alle gleichzeitig Ihre Radios für fünfzehn Sekunden ausschalteten? Es wäre ein einmaliger Moment in der Geschichte des Österreichischen Rundfunks, da bin ich mir sicher. Solange jemand im Radio spricht, gibt es jemanden, der zuhört. Irgendein Radio läuft immer.

Tun Sie mir den Gefallen. Gehen Sie bitte zu Ihrem Radioapparat.

Haben Sie sich schon mal gefragt, was er alles nicht empfängt?

Alle anderen Sender senden in dieser Nacht etwas anderes als meine Stimme. Es gibt unzählig andere Konstellationen von Hörern, ganz unterschiedliche Universen, unzählige nicht gezeichnete Sternenkarten. Niemand wird sie jemals zeichnen. Doch ich möchte Sie jetzt bitten, einen kleinen Unterschied zu machen. Ich möchte Sie bitten, die Sternenkarte dieses Senders in ein schwarzes Blatt zu verwandeln. Für fünfzehn Sekunden. Und zwar - (er zögert, ihm fällt ein Problem auf) ich weiß, alle werden denken: sollen die anderen abschalten, ich bleibe dran! Ich will doch wissen, was der Bohatsch in den fünfzehn Sekunden sagt.

Aber so geht es nicht. Dann wäre es kein einmaliger Moment in der Geschichte des Rundfunks und alle, die abschalten, glichen eher dem Kleinbürger, der glaubt, er stopft den Mächtigen der Welt das Maul, wenn er das Radio ausschaltet. Eine ohnmächtige Geste. Aber darum geht es bei dieser nächtlichen Geste des Ausschaltens, um die ich sie gleich bitte, nicht.

Ich glaube übrigens auch keineswegs, dass die Massenmedien unsere Kommunikation beeinträchtigt und dass es besser wäre, Sie würden jetzt, statt mir zuzuhören, Freunde treffen oder ein gutes Buch lesen. Es ist eine viel zu interessante Situation, dass Sie alle mir jetzt zuhören. Es geht darum zu prüfen, was diese Situation bedeutet. Gerade weil diese Situation interessant ist, tun Sie mir und Ihnen einen Gefallen, wenn Sie Ihr Radiogerät gleich ausschalten. Mehr verlange ich nicht. Also bitte, führen Sie ihre Hand zum Ausschalter Ihres Radios. Fahren Sie vorsichtig mit dem Zeigefinger auf ihm hin und her.

Es ist verlockend, oder?

Vorhin habe ich Sie gefragt, was Sie in der Stille hören -

(Stille)

- jetzt möchte ich Sie bitten, eine andere Stille zu erzeugen. Bitte vergleichen Sie die, wie ich finde, sehr unterschiedlichen Stillen. Dieser Test funktioniert nur, wenn Sie ihn auch durchführen.

(Stille)

Schalten Sie nun - für fünfzehn Sekunden - Ihr Radio aus: Jetzt!

(Er wartet kurz und sagt zu sich)

Ich bin allein - das ist das Geheimnis der Nacht: Draußen schnüffelt man den Geruch der Scheiße. All das Ungesagte taucht empor.

(Stille bis insgesamt 20 Sekunden vergangen sind)

(verstimmt) Das war nicht für Sie bestimmt!

(freundlich) An alle, die ihr Radio ausgeschaltet haben: Vielen Dank. Ich weiß nicht, wie es für Sie war - für mich hat sich dieser Raum für fünfzehn Sekunden in einen anderen Raum verwandelt. Ich war allein und habe zu mir gesagt: (betont) „Ich bin allein - das ist das Geheimnis der Nacht: Draußen schnüffelt man den Geruch der Scheiße. All das Ungesagte taucht empor.“ Aber wenn ich es jetzt sage, klingt es anders. Ich wiederhole es für alle, die bewiesen haben, welche Handlungsmöglichkeiten das Radio in sich birgt. Sie haben nichts verpasst, sondern eine Situation gewonnen. Eine Fiktion vielleicht, aber eine schöne Fiktion, die Fiktion kollektiven Handelns, das nicht gemeinschaftlich wird, sondern in der Zerstreuung kleine Gesten ermöglicht, die gesellschaftliche Explosionen bewirken könnten.

Alle, die das Radio nicht ausgeschaltet haben, weil Sie sich und mir keinen Gefallen tun wollten, werden glauben, dass Sie so frei waren, der Beeinflussung des Radios nicht zu folgen. Sie glauben, Sie könnten frei entscheiden. Aber was ist das für eine Entscheidung, frage ich Sie jetzt? Sie könnten jederzeit das Radio ausstellen, aber es hat keine Wirkung. Eben gab es die einmalige Möglichkeit, etwas noch nie Dagewesenes in der Rundfunkgeschichte zu produzieren. Die Konstellation der Radiohörerinnen hat sich in der gleichzeitigen, zerstreuten Geste in eine Assoziation verwandelt. Es wäre - anders als zum Beispiel im Faschismus - keine Gemeinschaft gewesen. Es ist einer der großen Mythen der Mediengeschichte, dass das Radio, der Volksempfänger die Menschen zu Nazis und Antisemiten gemacht haben soll. Umgekehrt: Nachträglich konnten die Antisemiten und Nazis behaupten, der Apparat hätte Sie erst zu den Taten verleitet, die Sie willentlich verübt hatten. Nein. Die HörerInnen bilden immer schon in der Zerstreuung Konstellationen des Hörens. Aber diese zufällige Gemeinsamkeit - Sie alle hören meine Stimme - erzeugt keine Gemeinschaft, sondern ermöglicht aufgrund der Verschwendung meiner Stimme, die niemanden gehört, die freie Assoziation, ein Sternenbild. Dies Sternenbild wird selten gedeutet. Es spielt im Universum fast keine Rolle - trotz der vielen gleichzeitigen Konstellationen der vielen verschiedenen Sender. Sie verwandeln sich in keine Assoziationen. Die vervielfältigten Stimmen verhallen. Ihre verschwenderische Ökonomie hat keine Konsequenzen für die Volkswirtschaft. Stattdessen wird das Hören in die Nähe des Gehorchens gerückt. Dann wirkt die Radiosituation nicht so unheimlich, und die Verschwendung der Ausstrahlung kann ignoriert werden. Alles bleibt im Besitz. Die Stimme, die Geheimnisse, die Apparate.

Nein.

Hören ist - anders als so oft behauptet wird - nicht gehorchen.

Das ist das Geheimnis der Nacht. Stimme. Zerstreuung.

(Er macht eine Pause. Eigentlich ist nicht mehr viel zu sagen. Es ist nach halb zwölf. Er hat viel gesagt und ist müde.)

Die Ausstrahlung ist immer mehr als einer kontrollieren kann. Es passieren unerwartete Dinge. Die Stimme trifft auf zahlreiche Situationen, von denen sie nichts weiß. Nie wird aufgezeichnet werden, was in all den verschiedenen Momenten passiert, in denen meine Stimme wie aus dem Nichts auftaucht. Jetzt und jetzt und jetzt passiert in allen Räumen etwas anderes. Die Stimme ist überall dieselbe, aber sie klingt nirgendwo gleich.

Ich werde müde. Ich möchte nicht mehr sprechen müssen. Wissen Sie was, ich lege eine Platte auf.

(Er steht auf, nimmt die Doppel-LP zur Hand. Von weitem:) Sie werden das Stück vielleicht kennen. Es paßt zur Nacht. Ein Stück von der Platte ‚Still'. (Er nimmt Seite Drei aus ihrer Hülle und legt sie auf den Plattenspieler). Dabei ist die Platte alles andere als still. Sie werden es gleich hören. Vielleicht wollen Sie zur Musik tanzen? Stellen Sie das Radio ein wenig lauter. Es ist eine Live-Aufnahme. Der Sänger ist schon lange tot.

(Er setzt den Tonarm auf und spielt das erste Lied - Transmission. Er nimmt den Tonarm nach dem Ende des Stückes wieder auf. Er spricht wie im Traum).

Es ist Nacht. Sie hören meine Stimme. Sie sind zerstreut.

Das ist nicht alles.

Sie sind mir fremd, aber meine Stimme ist Ihnen vertraut. Es gibt nichts anderes als zu sprechen. Aber das ist nicht alles. Solange meine Stimme von vielen anderen gleichzeitig gehört wird, kann sie mir in ihrer Zerstreuung schön erscheinen. Sie ist mehr als ich sagen kann. Ich weiss nicht, welche Situationen sie erhellen kann. Sie wird niemals hell wie eine Sonne sein. Aber gerade das ist ihre Schönheit. Sie blendet nicht. Ihre Sternenwelten der Freude kennen keine Morgenröte. Sie müssen nichts versprechen. Doch wer weiß? Vielleicht können die Sterne eines Tages die Erde erwärmen? Aber ihr Funkeln verspricht nichts. Es verschwendet sich nur. Welche Feste! Wir können die Nacht darüber wachen. Wir können lernen, die Verschwendung der Sterne zu deuten. Ich sehe dem Morgen mit Unruhe entgegen. Er verheißt nichts Gutes. Dann wird alles eins. In der Nacht läßt sich sprechen. In der Nacht läßt sich träumen. Die Nacht ist die bevorzugte Zeit. Jetzt können die Träume ihre Stimmen erheben. In Träumen spricht immer mehr als einer.

Wer wird in meinen Träumen sprechen? Wer ihre Sprachen verstehen? Wer wird sich zerstreuen und ihre Assoziationen deuten? Wer wird die Stimmen erheben und denen entgegentreten, für die das alles eins ist? Wer wird sich frei assoziieren? Wer in fremden Sprachen träumen? Wer wird die Träume? Wer wird zur Nacht? Wer spricht?