SONNTAG, 21. Juni 2009, 23:03 - 23:45, Ö1

KUNSTRADIO - RADIOKUNST


Poet der eine, Romancier der andere: und doch sind der Schweizer Urs Allemann und der Oberösterreicher Richard Obermayr nichts weniger als "typische Vertreter" ihrer Gattungen.

Urs Allemann, Jahrgang 1948, zersprengt das erste und einzige Wort seiner virtuosen Performance – "verlautbarung" – in dessen einzelne Silben, um Widersinn und Widerspenstigkeit dieser Vokabel der offiziösen Kundmachungen (einst speziell per Radio- Durchsage) bloßzulegen. Womit sich nicht nur überraschende Mehrdeutigkeiten erhellen, sondern auch in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt wer hier wem und was (kraft welcher Autorität?) ver-laut-bart.

Der sich skrupulös vorantastende Romancier Richard Obermayr, Jahrgang 1970, sucht dahingegen den Raum zwischen den abgehalfterten Erzählwörtern, um dem Nicht-Mehr, dem Noch-Nicht und dem Vieldeutigen nachzuspüren. Was Buchdruck und öffentliche Lesung verwehren – Vielstimmigkeit einerseits und anderseits Stille – findet im radiophonen Experiment seinen Ort : "stillgelegt" als beklemmendes Tableau eines erstarrten Familienidylls, aus welchem nur die Flucht – per Sprache – möglich ist.

(Christiane Zintzen, Producerin)


A CASSETTE OF THIS PROGRAM CAN BE ORDERED FROM THE "ORF TONBANDDIENST"


 

“verlautbarung”

von Urs Allemann


Ton : Martin Leitner

Länge: 15:09

urs allemann macht  in seiner "verlautbarung" das viersilbig vor sich hin lautende wort "ver-laut-ba-rung" (bzw. "ver-laut-bar-ung" bzw. "verl-aut-bah-rung" bzw. "verl-autb-aar- ung") zum medium sowohl als auch zum  gegenstand der verlautbarung. über einem "generalbass", der 209 mal die silben der "verlautbarung" variierend repetiert, werden verschiedene stimmen laut, die sich – kommentierend, reflektierend, abschweifend,schimpfend, blödelnd, polemisierend – zu einem  bizarren verlautbarungschor mischen. dabei löst sich die verlautbarung in der verlautbarung auf. denn: "die verlautbarung zerfällt anders als gallien, aber sie zerfällt auch."

( Christiane Zintzen, Kuratorin)


Related Link:
Produktionsnotizen

Textausschnitt
am anfang war die verlautbarung. aber ohne artikel. am anfang war nicht die, nicht eine, sondern verlautbarung. doch, doch, Sie erinnern sich, Sie haben es vor ein paar ohrenhorchen gehört. am anfang war die verlautbarung verlautbarung. ach was, am anfang war nicht das wort? doch, doch. was soll es sonst gewesen sein, was Sie gehört haben, hm ?

© Urs Allemann

 

stillgelegt

von Richard Obermayr


Ton : Martin Leitner
Länge: 8:42


Statement von Richard Obermayr zu „stillgelegt“ 

„Das Radioprojekt habe ich um jene Stellen des Romans, an dem ich derzeit arbeite, ausgewählt, die davon handeln, dass Menschen in der Vergangenheit überbleiben, also Augenblicke noch andauern. Bei Michaelangelo Antonioni gibt es diese "tote Zeit", in der die Kamera noch läuft und auf die Personen gehalten wird, obwohl die Szene schon vorbei ist. Ich stelle mir das ähnlich vor, dass die Zeit weiterläuft über das Geschehen hinaus, während die Gegenwart die Geschichte weiterzieht. Ich habe mir gedacht, das ist für das Radio insofern passend, als die Stimmen aus der Geschichte hinausfließen und sich da an den letzten Worten noch festhalten – wie Sänger in ihrer Arie am letzten Ton.

Mir geht es so, dass man ja eine innere Stimme hat, die eine Vielfalt von Bedeutungen aufrecht erhält, während man seinen eigenen Text immer wieder liest. Diese innere Stimme, die also auch eine Vielfalt von Möglichkeiten vorgaukelt und gewisse Unschärfen ausbügelt. Und wenn man dann im Studio – noch dazu in Dolby Surround – seine Stimme hört, merkt man dann plötzlich, dass sehr wenig übrigbleibt und dass diese Ungenauigkeiten dann auf einen zurückfallen. Besonders, wenn man Prosa schreibt, muss man sehr genau darauf schauen: Was ist die eine Stimme, die die Erzählung trägt. Insofern ist Radio der erste Text, wo diese vielgestaltige innere Stimme zum ersten Mal durch so ein Nadelöhr muss und den Text bestehen muss, was da falsch klingt oder was an mitgedachten inneren Stimmen eben nicht mehr vermittelbar ist.

Ich dachte ja, dass die Arbeit am Computer relativ intransparent ist und man überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann, was mit der Stimme und den Effekten geschieht – aber vielleicht war es der gute Tonmeister. Auf jeden Fall war es mir dann relativ einsichtig, dass meine Stimme da in Spuren zerlegt wird und das dann auch tatsächlich visuell vermittelbar bleibt. Auch für mich und für die Bedeutung dessen, was ich da gesprochen habe, wieweit man eine Stimme "strecken" kann, wieweit man Spuren "ausdünnen" darf und wie weit ein Effekt einen anderen stört. Da sieht man dann wirklich ganz offenbar, wie viele Pausen und Unterbrechungen die Spur, die die Information in erster Linie trägt, verträgt. Das war am Computer, in der Arbeit, also wenn der Tonmeister diese Spuren "streckt", "hineinfährt", "vergrössert", wo man das wirklich dann untereinander sieht, diese verschiedenen Spuren, die Effekte, welche eigene Spuren sind, dann meine Stimme, die eine eigene Spur bildet, dass man dann plötzlich sieht – am Bildschirm in Zentimetern messbar – wie viele Pausen man da setzen kann, ohne den Fluss zu unterbrechen oder wo man den Fluss unterbrechen muss, weil das sonst an Dynamik verliert. Das ist dann einfach der Tonmeister, der einem das vermittelt.“

(Richard Obermayr)


Related Link:
Produktionsnotizen

Textausschnitt
In der Vergangenheit werden sie untreu, führen ein Leben ohne Aufsicht, machen weiter, vielleicht aus Trägheit nur, führen den Tag über sein Ende hinaus, wie man einfach eine Linie weiterzieht und immer weiter verlängert, bis der Bleistift stumpf geworden, die Farbe aus den Borsten geflossen ist. ... Hinter den Mauern dieses Hauses, wo der Tag die Zeit verträumt, sind sie das, was sie im Leben nie waren.

© Richard Obermayr