"Die Tür in den Wäldern"





Wildnisreise für Schneeradio

Peter Pessl




"Es gibt noch Klangschnee zu finden
jenseits der Menschenwelt,
der Welt aus Geld, die zu Nichts zerfällt.
Das Nichts aber, merk´s dir,
ist ein grausamer Gottkönig,
der sammelt Schneeklang wie Brennholz,
Eisregen, zischelnde Schlangen."


So sprach vom Hausdach die Nebelkrähe, und sie führte mich zu einer Tür tief in den Wäldern.
Auf dem Dickichtweg dorthin war ein Knistern, Sprühen, Tönen, wie es vorkommt an dahinfliehenden Flüssen, in leeren Ebenen, im Nassnebel, in der Dunkelheit: ungerichtet, ungezähmt, niemandem verpflichtet.
Das Hindurchgehen war ein Splittern, Splissen, Sprechen, vielstimmig, an Menschen, Geister, Götter gerichtet: Intimität, Streit, Schuld und Vergeltung.
Und es erklangen der Reihe nach die zahlreichen Protagonisten, die ich so gern noch einmal versammeln wollte: Bäume, Flüsse, wilde Tiere, geflüsterte Wörter, Vor- und Nachformen von Wörtern, aber auch Autobahnkreuze, Konzentrationslager, Kampfhandlungen, Kriegstote, Flussschiffer, blutige Gespenster.
Und ich sage euch, so die Krähe, in dem Niemandsland hinter jener nachtblaugrünen Tür in den Wäldern, die so schwer zu finden ist und noch schwerer zu vergessen, auf einer glasgrünen Lichtung, im Vogelflug, im Parlieren der Erntemaschinen, ganz am Rand der Maisfelder, mit Eiszapfen gekrönt, zehn Grad unter Null, aus Rotz gezimmert, aus Wangenrot, steht es da:
Das Gasthaus der wilderness.

„Wer die Tür in den Wäldern,
die eigentlich sieben verborgene Klangtüren ist,
durchschreitet, eintritt in das Gasthaus der wilderness,
der vermag die unsichtbaren Bewohner der Wälder zu sehen, zu hören,
die Verlorenen, die Toten, die ewigen Wanderer,
den nasskalten Hallraum der Geschichte, wer es versäumt,
merk´s dir, der hört immer nur Missklang,
der sieht immer nur Nullnummern, leeren Wahn!“,

so schloss vom Hausdach die Nebelkrähe.







Das Material für diese Wildnisreise für Schneeradio besteht aus einer Hand voll Aufnahmen in der wilderness, u.a. meine Flugbienen an allerletzten Spätherbsttagen, mittwinterlichen vor- und nachsprachlichen Stimmimprovisationen an den Quellen der Strem, sowie aus wiederverwendetem, weltgewandtem Material aus ganz anderen, scheinbar weit entfernten Kontexten, ich nenne es gerne „kontaminiertes Material“ (von contaminare: „berühren, verschmelzen“).
Wie in meinen Gedichten und Prosaarbeiten verwende ich für die Komposition dieses Wildnisstücks die Methode der „verwischten Collage“, das meint: um das Ziel in der verschneiten Ferne zu treffen, „da, Wind auf den Grashügeln!“, hole ich weit ins Gegenteil des Gemeinten aus, „da, der Hase im Haselgraben!“



„Ah, Segramors!“(9.33 min)






„Weshalb gibt es Blutzucker-Reif und eiserne Schluchten niemals getrennt?“



„Tulmen, tris, tris, fartmenai“ (7.06 min)







„Bin ich um die Form aufzutrennen gegangen den Wasserweg?“




„Oh, anana fira dregg feh!“ (7.38 min)







„Führt die Sichel des Tals in eine Jahrhunderternte aus Waldwissen,



„Anafnsa“ (8.29 min)







Halbwissen Zartheit, Weisheit der Strände?“



„Aiwaseh eih eih eih!“
(7.37 min)








„Dort wälzt sie sich, ein Hetzhund, und fingert,



„Mnfra (ach, Minerva!)“
(7.39 min)







abends zu zweit im Moor, ein Sumpf-Feuerchen aus klarstem Duffblau:



„Ygrayne“
(4.52 min)







„Die Seeligkeit des kindlichen Fragens ist Mutternahrung“








Aus all dem fügte ich, ohne recht hinzusehen, nur mit den Fellohren des fliehenden Feldhasen im Haselgraben, ein vierteiliges Gedicht:





„Doch kaum hat es die feuchte Gegend
des weissen Strandes erreicht, (…)
das wilde Tier,
der Wilde, Löwe, Schafwürger,
(…) da stürmt es auf sie ein:
Attis flieht besinnungslos
in die Wildnis des Hains.“


(Catull, carmen 63)





MUTTERNAHRUNG

„Weshalb gibt es Blutzucker-Reif
und eiserne Schluchten
niemals getrennt?
Bin ich um die Form aufzutrennen
gegangen den Wasserweg?
Führt die Sichel des Tals in eine Jahrhunderternte
aus Waldwissen, Halbwissen Zartheit,
Weisheit der Strände?“

Sag Maureen, kannst du denn Kinder haben
von Schilfschlangen, vom Eisesmärz,
vom Wilden? Kannst du, nassnackt,
in den Tamarisken am weissen Strand
die Türen öffnen, die führen ins
Holunderherz des Hains, der bewohnt ist
von einer zahlenmächtigen Göttin Göddezin
der Wurmholzgöre, die Allmacht strahlt,
Wortwut faulig, saures Saugen,
und lungert zeitlos, besoffen zwar, im Grashalmnebel?
Dort wälzt sie sich, ein Hetzhund,
und fingert, abends zu zweit im Moor,
ein Sumpf-Feuerchen
aus klarstem Duffblau:

„Die Seeligkeit des
kindlichen Fragens
ist Mutternahrung“






„Die Menschenseele, wenn sie kippt,
nährt sich vom Feuchten,
aber dann fällt ihr ein,
sichtlich zu spät:
sie will wieder zurückkehren
vom Grund der Sargassosee!“


„Es gibt kein Zurück
aus Unzauber und Schlaf
der Blankaale“,
antwortet Maureen,
die hervorkam aus Felsplateaus,
Holzpfeifchen, tönernen Kannen.

„Die Menschenseele, wenn sie nippt
von Wildnis, von
Bangen, nährt sich von Würmern,
vom Wortwitz,
von Aalmutters Sirenenfeuer!“

So tönte
das Fremde, Fremde, Fremde!
(das ich suchte, seit jeher)





Wir pflanzten am Meer
einen Löwen,
Maureen und ich,
der Lachsfischer.




[Programmseite]



PROGRAM
CALENDAR