Sonntag, 01. Mai 2022, 23:00 - 0:00, Ö1

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RADIOKUNST - KUNSTRADIO






Balance-Ost, Moser-Wagner Bild
  • Balance-Ost 2021 © Moser-Wagner




  • schleifen (ver)dichten

    von Gertrude Moser-Wagner und Josef Reiter


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    Intro

    Die Floridsdorfer Hochbahn quert als auffällige Baustruktur den Norden Wiens. Diese eingleisige Bahntrasse in Betonbauweise mit Viadukten und Stahlbrücken, wird oft „Italienerschleife“ genannt. Sie war 1916 von italienischen Zwangsarbeitern errichtet worden, um Waffentransporte zu beschleunigen: eine Nordwestbahn / Nordbahnstrecken-Spange von viereinhalb Kilometern. Das italienische Kriegsgefangenenlager Sigmundsherberg im Waldviertel war das größte der zerfallenden Monarchie. Heute wird diese funktionelle Strecke mehrmals am Tag ausschließlich von Transportzügen befahren.

    An der erhöhten Bahnstation Siemensstraße stehend, haben wir den besten Überblick, denn es besteht Augenhöhe mit der „Italienerschleife“ samt ihrem 1999 errichteten Wander-Bertoni-Mahnmal. Dort kulminieren auch historische wie heutige Bauten, Infrastrukturen, Verkehrswege, Arbeitsgeber, Firmen.

    Daher ist diese Station auch Ausgangspunkt für das Kunstprojekt „Schleifen, Dichten“ von Gertrude Moser-Wagner, in Zusammenarbeit mit Kunst im öffentlichen Raum Wien. Geschichtliche Hintergründe in poetischer Umdeutung vorliegender Elemente - wie etwa Mahnmal und Schleife, Stellwerk und Schiene – fokussiert sie als Frage nach der Erfahrung mit ARBEIT. Der Begriff Gleis hängt etymologisch mit Leistung zusammen, und er bedeutet auch: eine Spur ziehen.

    Balance Ost, Detail 2021 Bild
  • Balance-Ost, Detail 2021 © Sophie Tiller

  • Moser-Wagners neue künstlerische Arbeit "Balance Ost" ist kollektives Gehen auf dem Gleis, Balanceverlust inklusive. Der dritte Teil dieses einjährig angelegten Projekts mit Kolleg:innen findet als performative 1. Mai "Ausfahrt" ab Siemensstraße statt (Performance im Heizhaus Strasshof, Emel Heinreich und Team).

    Balance Ost, Detail 2021 Bild
  • Heizhaus Strasshof, Performanceort, 1.Mai © GMW


  • Kunstradio

    Das vorliegende Kunstradio "schleifen (ver)dichten" ist eine weiterführende Arbeit mit Josef Reiter und geht ebenfalls vom Ort aus, den es akustisch aufbereitet.

    Ausgangsmaterial für das Stück sind Reiters Field Recordings und Soundscapes, aufgenommen im Umfeld der "Italienerschleife" in Wien/Floridsdorf, in Schützengräben des 1. Weltkriegs in Kolovrat (Slowenien) und an Plätzen des ehemaligen Kriegsgefangenlagers in Sigmundsherberg. Dazu kommen noch Aufnahmen, eingespielt von Josef Reiter, mit einem Kontrabass und (teilweise präparierten) Eisenbahnschienen. Dieses Klangmaterial wird, zum Teil elektronisch bearbeitet, gegeneinander gesetzt aber auch miteinander verwoben - atmosphärische Schleifen - Geräusche werden zu Musik transformiert und vice versa.

    Weitere Ebenen sind eingezogen - einerseits gesprochene Passagen, kreisend um das Thema Arbeit, von Passant:innen aus der Soundarbeit "Akustischer Erinnerungsspeicher" von Wally Rettenbacher.

    Zum anderen Aufnahmen aus Italien von Gertrude Moser-Wagner, die sich vor Jahren mit Ventotene als Wiege der Europäischen Idee auseinandersetzte und sich jetzt die Gefängnisinsel Santo Stefano durch einen Historiker beschreiben lässt. Diese Aufzählung ist durchsetzt mit Passagen aus dem Buch "Schicksal Kriegsgefangenschaft“ von Dr. Rudolf Koch, der sich mit Sigmundsherberg, seinem Geburtsort und dem ehemaligen Lager beschäftigte.

    Balance Ost, Detail 2021 Bild
  • Balance-Ost © Sophie Tiller


  • Outro

    Kriege in Europa lägen hinter uns, so dachten wir, denn Wohlfahrt, Konsum, Selbstbestimmung, Demokratie, zusammen mit einer prosperierenden Ökonomie - einhergehend mit globaler Vernetzung aber auch Profitmaximierung und Auslagerung der Arbeit - ergäben automatisch den sozialen Frieden. Doch schon die Erfahrung in der Covid-Pandemie mit ihrem egozentrischen Freiheitsbegriff und anderen Verwerfungen hat uns darin verunsichert. Nun aber holen uns auf erschreckende Weise Kriege ein, wie jener in der Ukraine und lassen Fragen über Fragen offen: jene nach dem Gedankenmodell Europa, einer militärischen Verteidigung, der künftigen Arbeit für alle, dem Bodenverbrauch, den schwindenden Ressourcen - kurz:

    Scheinbar bereits gelöste Fragen - nach einer Weichenstellung, wohin der Zug der Zeit fährt, verdichten sich zu vielfältigen Schleifen ...

    Das Stellwerk auf der Station ist und bleibt symbolischer Ort: TRUE FACTS ARENA (Natalie Deewan).

  • Dank an:
    Wally Rettenbacher / Salvatore Schiano di Colella und Mitwirkende aus Ventotene / Rudolf Koch / Elisabeth Kargl und Saša Mitevski.


  • Links:
  • Mehr zu Gertrude Moser-Wagner 2021/22 Kunstprojekt in Floridsdorf „Schleifen, Dichten“