Was schon immer zu befürchten war, ist eingetreten. Dietmar Kampers Freude am Anthropologischen dürfte auch in Wien einen fruchtbaren Boden gefunden haben. Wolfgang Müller-Funk und Hans Ulrich Reck organisierten jedenfalls ein Symposion "zu einer historischen Anthropologie der Medien". Die Frage stellt sich: Ist die alte Anthropologie wirklich der richtige Zugang zu den neuen Medien? Und die Veranstalter sehen sich zu Erklärungen veranlaßt. In der Pressemitteilung heißt es, die Entwicklungsdynamik der Medien zwischen "Mensch" (das Wort sollte man immer noch nur mit Handschuhen anfassen) und "Welt" sei "anthropologisch fundiert". Medien also eine Frage der Spezies? Nein, heißt es, der anthropologische Medienbegriff versteht sich als "eine Philosophie des Sozialen und Politischen". Aber wieso nennt man das dann nicht gleich so?
Einer der Hauptacts natürlich Dietmar Kamper zur These: "Maschinen sind sterblich wie Leute". Nun läßt sich Kampers Empfehlung, gelegentlich einen Computerfriedhof zu besuchen, um über die Vergänglichkeit alles Irdischen zu meditieren, als Symptom eines harmlosen Barock-Faibles werten. Methodisch ist das aber ein unangenehmer Versuch, seinen Hauptgewährsmann Lacan ins Existentialistische zurückzuzerren, aus dem ihn der neuere Lacanianismus gerade befreien will. Für Kamper gilt: Vanitas verschränkt sich mit Passivismus verschränkt sich mit Todes-Pathos (am Grunde der Kommunikation lauert der Tod, so Kamper) verschränkt sich mit Anthropologie verschränkt sich mit noch Bedenklicherem.
Denn ein regressives Konzept wie Anthropologie - wenn auch laut Kamper "nach dem Tode des Menschen" - wird durch diese Verpostung nicht weniger rückständig (während andererseits etwa das Konzept Avantgarde unter Bedingungen der Unmöglichkeit von Avantgarde immer noch progressive Effekte haben kann, (Marchart: "(New)Order", in: Acta Filosofica, Laibach, Herbst 95). Auf die Frage, ob er sich mit seiner Rede von prähistorischen Wahrnehmungsmustern, dem bevorstehenden Eintritt in die Prämoderne und seiner Suche nach der Zukunft in der Vergangenheit nicht dem Verdacht aussetze, auf sublimer Ebene mit den "Neuen Rechten" zu paktieren, antwortete Kamper einmal: "Sowenig wie die Windmesser für den Wind, sind die Erforscher dunkler Verhältnisse für das fehlende Licht verantwortlich. Ich möchte vielmehr herausfinden, wie es gewesen ist, was geschieht und worauf es hinausläuft. Rechtes Denken geht nicht soweit zurück wie es vorausgeht."(Symptome Nr.13, S.21). Was ist aus dem letzen Satz zu schließen: Daß Kamper noch weiter zurückgehen will als rechtes Denken?
Und diese kokett-größenwahnsinnige Identifizierung mit Windmessern und Höhlenforschern! Das Argument des postmodernen Theologen Kamper geht so: "Die Welt ist ein Jammertal, was wollt ihr, ich stells ja nur fest". Nur ist die Welt eben kein Jammertal, das ist nämlich ein ideologisches Konzept (und gehört zum "Imaginären", womit sich Kamper eigentlich dauernd beschäftigt), sondern was aussieht wie ein "Jammertal" ist eine Kombination aus politischer Unterordnung und ökonomischer Depravierung. Was hat das mit einer menschlichen Kondition (oder menschlichen "Modi", so Kamper) - immer nach dem Tode des Menschen, versteht sich - zu tun.
Wiedermal treffen wir auf das Problem der deutschen Erdung eines als zu unverbindlich wahrgenommenen französischen Poststrukturalismus. Während dieser im anglo-amerikanischen Raum anarcho-radikal-demokratisch gelesen wurde, wurde er bei uns über den politischen Katholizismus von Carl Schmitt, das Pathos der Entscheidung, ein ungebremstes Interesse an Geopolitik oder eine Wendung zur Theologie (ein Messianisches mit Messianismus, und nicht ohne wie bei Derrida) abgesteppt. Ein existentialistisch gelesener Lacan kam Kamper da gerade recht, was ihn auch auf Theorieebene anbindunsfähig machte an seine neurechten Bekannten Bergfleth und Mattenklott (mehr darüber findet sich in Diederichsens schon klassischem "Spirituelle Reaktionäre und völkische Vernunftkritiker", in: "Freiheit macht arm", Köln 1993). Damit soll Kamper keineswegs umstandslos der Neuen Rechten zugeschlagen werden, aber er schwänzelt schon bedenklich knapp um sie herum.
Soviel zum Bedenklichen. Das Thema Anthropologie wurde dann glücklicherweise nicht so tragisch ernst verfolgt, denn das Symposion gehorchte der ewigen Logik von Symposien, und alle sprachen über was sie gerade wollten.
Nicht bedenklich aber überflüssig Bazon Brock. Ihm stand ich ja anfangs aufgeschlossen gegenüber, weil ich mal auf einer Performance war, wo jeder Besucher 50 Schilling Eintritt von ihm bekommen hat (und wir sind ja alle bestechlich), aber diesmal hätte er schon einiges mehr springen lassen müssen. Jedenfalls fiel er nicht durch die Inhalte seines Vortrags über "mediale Artefakte im Zivilisationsprozeß", sondern durch seinen nicht mehr gebremsten Größenwahn auf: Höhepunkt war die Behauptung, er wäre der erste gewesen, der mit Bill Gates über die Windows von Windows diskutiert hätte.
Thomas H. Macho bot einen ebenfalls unbescheidenen Abriß der menschlichen Gesichtsgeschichte von der Prähistorie bis zum Fernsehen. Auch wenn seine These zutreffen mag - ist eine Kulturgeschichte (wofür Macho seit '93 Professor ist) ernzunehmen, die vorgibt, alles zu überblicken, vom ersten Tag der Schöpfung bis übermorgen: "Für die meisten Kulturen gilt, daß die Arbeit ihrer Medien - vom Schamanen bis zum Fernseh-Moderator - auf die mehr oder weniger rituelle Verkörperung eines abwesenden Grundprinzips (...) abzielt. Das abwesende Prinzip offenbart sich als Gesicht in des Wortes doppelter Bedeutung: als Vision und als Visage."
Nun begaben sich auch zwei nette Konfrontationen: eine zwischen Herbert Hrachovec und Dara Birnbaum und eine zwischen Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte.
Wolfgang Müller-Funk propagierte die Idee, die von den Medien, im speziellen Massenmedien, erzeugten Programme seien als Narrative zu analysieren. Beispielsweise die Golfkriegserzählung mit den Guten, den Bösen und den Häßlichen. Darin machte sich Müller-Funks Herkunft aus der Literaturwissenschaft bemerkbar, was jene Teilnehmer mit Herkunft aus der Bildwissenschaft nicht durchgehen lieBen. So schaukelte sich eine Diskussion um das Scheinproblem hoch, ob denn Bilder auch als Narrative analysierbar seien. Streckenweise sah es so aus, als würden nur noch die jeweiligen Berufsgruppen gegen feindliche Stämme verteidigt. Der schwachsinnigste Satz des Symposions geht daher leider aufs Konto des ja eigentlich gar nicht so üblen Kunsthistorikers Karl Clausberg, der in seiner überschwenglichen Verteidigung des Bildhaften tatsächlich behauptete: "Es gibt auch Narrative, die nicht sprachlich sind." Aha, was das wohl ist, ein nicht-sprachliches Narrativ. Bisher hätte ich schwören können: Entweder ein Narrativ ist sprachlich oder es ist keines.
Das kommt davon, wenn man sprachlich auf verbal reduziert. Einen solch verkürzten Sprachbegriff sollte heute ein halbwegs informierter Theoretiker wie Clausberg nicht mehr im Repertoir haben. Aus der richtigen poststrukturalistischen Standarderkenntnis, daß es immer einen Rest gibt, der der Narration entgeht, läßt sich nicht überdreht folgern, es gäbe gleich gar keine Narrative oder man könne nichts mehr auf seine narrative Struktur hin analysieren. Im Gegenteil: Narrationsanalysen werden dann erst richtig produktiv.
Narrativ müßte natürlich sinnvollerweise weiter gefaßt werden denn als zielgerichtete, klassische Erzählung. Ein Narrativ ist einfach ein pattern in einem differentiellen System, das sich durch Wiederholung gefestigt hat und nun als Muster erkennbar wurde. Oder man könnte, um Foucault einen Begriff zu entwenden, ein solches Sediment auch als Einheit in der Verstreuung bezeichnen. Dann sind "klassische" patterns wie sie z.B. bei Märchen identifiziert wurden (der Held zieht aus, der Held besteht Prüfungen, bis zu: der Held findet den Gral), nur eine besonders stark - d.i. dauernd - sedimentierte Variante. Aber solche Sedimentierungen werden darüberhinaus ununterbrochen produziert, sie stellen sich permanent her. So entstand genauso ein Kanon der Abstraktion, ein Kanon des Informellen, sogar ein Kanon der Telekommunikationskunst. Narration hat in diesem Sinn also nichts mit "Gschichtln" zu tun, und Bilder stehen keinesfalls außerhalb der Narration, geschweige denn außerhalb der Sprache. Ein Bild, das nichts "erzählt", entgeht der Signifikation im allgemeinen, und es ist fraglich, ob es dann überhaupt als Bild erkennbar wäre.
Die zweite Begegnung war wohl von einer überorganisatorischen Macht gelenkt. Denn direkt an Herbert Harchovec' "Spiegelstudium", einer Betrachtung der Spiegelmetapher des Cyber-Space anhand von u.a. Alice in Wonderland und modernen Computerwerbungen, schloß die Präsentation von Dara Birnbaum an, zeitlich und inhaltlich. Birnbaum zeigte Videos der Dire Straits und von Ah-Ha (oder wie haben die sich geschrieben) aus den 80ern, die genau diese passage zwischen den Welten thematisierten. Im ersten Fall waren es steinzeitlich animierte Cyber-Arbeiter, die über einen Bildschirm die echten Dire Straits verfolgten, im zweiten war es eine gezeichnete Comics-Welt, die von innen betrachtet wiederum Ausblicke in die echte, nicht-gezeichnete Welt bot. In der Diskussion stellte Herbert Hrachovec schließlich die Frage, wovon die Maschinen in diesen Videos träumen würden - offensichtlich von Popstars.
Soweit ich informiert bin, träumen Maschinen von Schokoladeriegeln. In einem momentan rotierenden TV-Ad bewegt sich eine computeranimierte Figur in einer virtuellen Shopping Mall, greift sich einen Apfel, beißt hinein und stellt angewidert fest, daß dessen Inneres aus einem Koordinaten-Netz besteht. Auf diesen Schock hin fliegt sie zu einer Actual-Reality-Station, setzt sich eine Actual-Reality-Brille auf, und was sieht sie? Einen echten (nicht-animierten) Schokoladeriegel. Twixx oder sowas. Folgender Schluß liegt für mich nahe: Das Fenster von der virtuellen Welt in die aktuale zeigt vor allem the real thing, Dinge, die man genießen kann. Sei es "money for nothing and the chicks for free" bei Dire Straits oder sei es ein Schokoladeriegel. Wir identifizieren uns mit der virtuellen Figur (die übrigens nicht virtueller ist als die Figuren im Kino etwa), um Zugang zum "real thing" zu bekommen - und das vor allem, ohne es konsumieren zu müssen/können. Denn dann wärs ja weg. Über das Eck der Maschine entsteht die Distanz, die GenuB ohne Verzehr ermöglicht. Das könnte übrigens auch die Definition von Cyber-Sex sein.