Bis zur Jahrtausendwende heisst es alle zwei Jahre in Hamburg: "Der Zirkus ist in der Stadt!" Dann strömen die Medientheoretiker und -theoretikerinnen zu der von der Hansestadt und der Hochschule für bildende Künste veranstalteten Tagung Interface. Nach der Interface1 zu elektronischen Medien und künstlerischer Kreativität und der Interface2 zu computergestützten Visionen widmete sich die Konferenz dieses Jahr dem Thema "labile Ordnungen". Solche Themenvorgaben sind selten mehr als catch-phrases und werden üblicherweise von den Vortragenden nicht einmal gestreift. So referierten auch diesmal die Stars der Szene über ihre momentane Arbeit und trugen Texte vor, die man genau so schon mal gehört hatte, mehrmals. So diskutierten und referierten unter der Zirkusdirektion des Amsterdamer Künstler/Aktivisten Geert Lovink (Agentur Bilwet) neben Chaos-Physiker Otto E. Rössler, Fernsehtheoretiker Siegfried Zielinski und Künstler Eduardo Kac u.a. die Dekonstruktivisten unter den Medientheoretikern Gregory L. Ulmer und Wolfgang Schirmacher. Also ein durchaus prominent besetztes Feld.
Die kanadischen Medientheoretiker Arthur und Marilouise Kroker boten mit ihrer Theorieperformance die Löwennummer der ganzen Veranstaltung. Akustisch unterstützt bzw. übertönt vom Komponisten/DJ Steve Gibson an den Turntables gaben sie unter dem Titel "Hacking the Future" einen Querschnitt ihrer Texte aus den letzten Jahren. Da die Krokers ihre Arbeit selbst *Pulp-Theory* nennen, kann man ihnen nicht einmal Unseriösität vorwerfen, nur eine schlechte Show. Doch es gab auch ernsthafte Interventionen.
Saskia Sassen, die im Schnittfeld von Urbanismus und Ökonomie arbeitet, lässt sich im Unterschied zur Pulp-Theory der Krokers eine gewisse akademische Ernsthaftigkeit nicht absprechen. Ausgehend von der These, dass Macht ein *räumliches* Moment besitzt, kann Sassen durchaus überzeugend argumentieren, die Globalisierung des Kapitals führe weder zu einer ungehemmten Zerstreuung aller fixierten Orte, noch zu einem gänzlichen Verschwinden aller Zentren. Genau wegen dieser telematischen Globalisierung der Ökonomie wiedererstehen Städte und übernehmen die Funktion von *strategischen Orten*. Die ganzen üblicherweise unter den Begriffen Globalisierung, Internationalisierung oder Dezentrierung geführten Phänomene verdecken die auf den Fuss folgende Rezentrierung.
So habe die zunehmende Entsendung von Firmen-Stützpunkten in alle Welt (deutsche Firmen etwa liegen, was ihre Auslandsorientierung betrifft, sogar vor japanischen, wie Sassen anlässlich des deutschen Tagungsortes feststellte) keineswegs zu einer Schwächung der Headquarters dieser Firmen geführt, sondern zu ihrer Stärkung. Das heisst: Je grösser der Streuwinkel der Standorte, desto entscheidender wird es, die Standorte aus strategisch-koordinatorischen Gründen in einer zweiten Bewegung wieder zu fokusieren. Diese Rolle übernimmt die Stadt. Darüberhinaus wird die Stadt als Ort der Repräsentation nach wie vor benötigt: "Eliten brauchen Platz zum Repräsentieren".
Der sogenannte "e-space", der elektronische Raum, ist daher für Sassen in der heutigen Medientheorie untertheorisiert. Nicht die Macht- und Marginalitätsformen, die diesen Raum zum umkämpften Raum machen, würden üblicherweise von der Theorie bearbeitet, sondern dessen *Erscheinung* (als userfreundlich, multimedial, ver-hyperlinkt etc.). Die "electro-tecture" dieser Räume bleibt aber genausowenig wie klassische archi-tecture von den darin stattfindenden Machtkämpfen unberührt.
Peter Lamborn Wilson, der ein Buch über CyberGnosis in Vorbereitung hat, versteht unter diesem Titel die Beschreibung des Netzes nach quasi-religiösen Mustern - nicht zuletzt durch wissenschaftliche Texten. Technologie führe zu Religion, weil jede Technologie dem Unbewussten rätselhaft, magisch oder mystisch erscheint. Die telematischen Technologien wirkten schon deshalb magisch, weil sie mit der Magie das Charakeristikum teilen, über Distanz agieren zu können. Als gnostisches Phänomen werde der Cyberspace aber beschrieben, weil er die Benutzer vom Fleisch reinigt und entkörperlicht. Diese CyberGnosis ist für Wilson eindeutig ein Fall von falschem Bewusstsein.
Im Himmel des Netzes findet aber ein Krieg statt. Und hier argumentiert Wilson mit ähnlichen Konzepten wie Saskia Sassen, indem er sich auf Clastres Unterscheidung zwischen zentripetaler Kriegsführung (Zenralisierung von Macht) und zentrifugaler Kriegsführung (Verteilung von Macht) stützt. Die erste eine klassisch europäische und "staatliche" Strategie, die zweite eine Strategie sog. "primitiver", tribaler oder nomadischer Gesellschaften. Tribale Gesellschaften werden über Traditionen, Mythen und Rituale vereinheitlich und nicht über den Staat. Im Gegenteil: sie funktionieren sogar als interne Blockade gegen das Entstehen von Staat. Da es diesen Gesellschaften im Krieg in erster Linie um Ruhm geht und nicht um Macht, ist der Kriegsherr nicht gleichzeitig der Chef in Friedenszeiten. Seine Machtposition darf sich nicht stabilisieren. Und er muss schon deshalb nach dem Krieg wieder zurücktreten, weil er in den meisten Fällen sowieso nicht ganz normal ist, was ihn im Krieg erst effizient macht.
Auf elektronischen Widerstand übertragen ist die zentrifugale Kriegsführung der Netzaktivisten angesichts der klassisch staatlichen Kriegsführung der NSA (amerikanischer Geheimdienst, der den Clipper-Chip forderte) bzw. der kommerziellen Konquistadoren nicht sehr erfolgversprechend, denn wie das Beispiel der Indianer laut Wilson zeige, ist diese "primitive" Kriegsführung gegen staatliche zentripetale Kriegsführung immer im Nachteil. Hauptargument von Staat und disinfotainment-Industrie für eine Vereinheitlichung des Netzes scheint momentan die Kinderpornographie zu sein. Begleitet vom Mantra: "rettet die Kinder, rettet die Kinder, rettet die Kinder...", würden die romantischen Ränder des Netzes nun der zentralisierten Macht geopfert werden, so Wilson. Was in seinem unter dem Pseudonym Hakim Bey verfassten Buch "Temporäre Autonome Zonen (TAZ)" noch als eine plausible Widerstandsstrategie gehandelt wurde, nämlich Nomadismus, scheint sich nun (spätesten seit der Komplementierung des TAZ-Konzepts durch das Konzept *Permanenter* Autonomer Zonen) als so nicht haltbar erwiesen zu haben. Diese Einsicht ist zu begrüssen.
Bedauerlicherweise verfängt sich Wilson/Bey auf der Suche nach einer Alternativlösung aber in einen unerträglichen Körper-Substanzialismus, der auch seine an sich berechtigte Kritik an der CyberGnosis der üblichen Netztheorie nachträglich in ein anderes Licht rückt. So will er den widerständigen Willen zur Macht im Sozialen und im Körper verankern. Sich auf Fourier berufend, erklärt er, die einzige Basis für eine andere Ordnung wären Leidenschaften ("passions") und Spass ("pleasure"). Nur leider, denke ich, ist das genau das Konzept der disinfotainment-Industrie.
Etwas weniger auf Entsublimierung setzte Steven Kurtz vom Critical Art Ensemble, einer Künstlergruppe, die in, mit und ausserhalb der Neuen Medien arbeitet. Sein Vortrag, einer der besten der Interface3, beschrieb fünf Versprechen der elektronischen Netzwerke, die sich nie erfüllen werden. Das erste falsche Verspechen ist das des "neuen Körpers". Für den virtuellen Körper sei angeblich nichts fixiert und alles möglich. Leider hat aber dieser Körper einen faschistischen Zwilling: den Daten-Körper. Diese Gesamtheit aller elektronisch verfügbarer Daten eines bestimmten Individuums kann einerseits der Überwachung dienen und der Rasterfahndung, andererseits auch der Verbesserung von Marketing-Methoden, um Nachfrage zu bedienen und zu erzeugen. Das zweite leere Versprechen ist das der Bequemlichkeit: alles werde einfacher durch den Computer. Tatsächlich wird alles aber nicht einfacher, sondern effizienter. Nicht mehr Freizeit, sondern ein Mehr an Arbeits-Effizienz bzw. Produktivität ist die Folge von "Faxen am Strand" und "Telefonieren am Berggipfel".
Drittens: die Gemeinschaft-Verheissung. Sie ist getragen von einer Nostalgie für ein goldenes Zeitalter, das niemals existiert hat. Aber laut Kurz reicht der blosse Austausch von Informationen nicht aus, um eine Gemeinschaft zu stiften. Der Bezug auf eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Rituale etc., sei mindestens ebenso wichtig. Das vierte leere Versprechen ist jenes auf Demokratie. Eine Plattform für individuelle Stimmen, wie sie das Netz biete, sei keine ausreichende Bedingung für Demokratie. Einmal davon abgesehen, dass weltweit die meisten nicht mal ein Telefon haben (das Netz führt also höchstens zur Telephonokratie), gehöre die Zukunft der Medien in der Mehrzahl den passiven Konsumenten und nicht den aktiven Partizipanten. Schliesslich ist die fünfte leere Versprechung die eines neuen Bewusstseins. Das Netz sei das Hirn des Planeten, die Noosphäre gewissermassen: Eine ethnozentrische New Age-Vision.
Der an Thoreau erinnernde Vorschlag des Critical Art Ensemble lautet nun "electronic civil disobedience", also elektronischer ziviler Ungehorsam. Hiermit scheint sich das anarchistische CÄ dem klassisch-amerikanisch-liberalistischen Weg der Electronic Frontier Foundation anzunähern, deren Schlachtruf einmal lautete: "Cyberrights Now!". Unter zivilem Ungehorsam versteht das CÄ aber auch das Bestreiken des eigenen Datenkörpers, z.B. indem man nicht mit Kreditkarte kauft, von elektronischen Mautstellen auf Bundesstrassen ausweicht, etc. Eine solche Strategie wirkt nicht nur äusserst unpraktikabel, sie ist auch sinnlos, weil sie rein individualistisch agiert. Es geht der Macht aber nicht um eine lückenlose Kontrolle aller Individuen, darauf hatte Peter Lamborn Wilson in seinem Vortrag zurecht hingewiesen, sondern um die disziplinierende Wirkung von Überwachungsmassnahmen auf die Mehrzahl. Ob sich einzelne der Überwachung entziehen oder nicht, verfolgt werden können oder nicht, ist irrelevant, was die Aufklärungsstatistiken der Polizei illustrieren (die Polizei erfüllt ihre Funktion der "Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung" auch und obwohl sie völlig ineffizient agiert).
In einem weniger politischen Abendvortrag beeindruckte die lebende Legende Ted Nelson, Schöpfer des Begriffs "Hypertext", das Publikum mit seiner wiederholten Versicherung, er hätte seit den 60ern immer alles schon gewusst und vorhergesehen (e-mail, WWW, natürlich Hypertext, etc.), man müsse es nur nachlesen. Dafür und für seinen rhetorisch durchaus brillanten Vortrag erhielt er dann auch Ovationen wie ein Popstar. Von der Stimmung sicher der Höhepunkt der Interface3. Nelsons Kritik des World Wide Web als magerer Abklatsch dessen, was Hypertext leisten könnte, ist durchaus bedenkenswert. Nelson schlug vor, nicht bloss Textbrocken miteinander zu verlinken, wie es jetzt üblich ist, sondern sie in ihren Kontexten zu belassen und auf diese Weise ein und dieselbe Stelle in den verschiedenen Kontexten, in denen sie auftritt, erfahrbar zu machen: sozusagen ein "paralleler" Hypertext. Aus Österreich präsentierte Roland Alton-Scheidl sein voice-mailing-system Public Voice und den Feldversuch "Grätzltelefon für den Raum Aspern". Das Aspernerisch erwies sich erwartungsgemäss als unüberwindbare Hürde für die norddeutschen Besucher. Für Alton-Scheidl sind interaktive Sprach- und Faxdienste aufgrund ihrer grösseren Zugangsbreite eine demokratischere Alternative zu on-line-Diensten. Denn jede Telefonzelle kann zum öffentlichen Terminal werden.
Das Symposion Interface3 wurde übrigens leider begleitet von einer miserablen Medienkunst-Ausstellung (ich sage nur: Peter Weibel - der Mann ist überall) unter dem wenig kreativen Titel <falschVerbunden>.