Knoten im Netz

Heimo Ranzenbacher/ Gerfried Stocker

Gottfried Wilhelm Leibniz` (1646 - 1716) Idee, daß "die Gegenwart schwanger von der Zukunft" sei, existiert mithin schon länger, als die Fiktion einer chronomotorischen Bewegung zumindest die literarische Ausführbarkeit einer solchen Idee begründete.[1]

Auch dem Alltagsverstand wird dieses Wort widersinnig erscheinen. Linearem Denken zufolge bedeutete "schwanger von der Zukunft" die Umkehrung etwa des prognostischen Prinzips der Futurologie, Entwicklungslinien in die Zukunft zu verlängern, also des Ursache-Wirkung-Prinzips. Damit aber will gewiß niemand veralbert werden.
Vielmehr ist Leibniz` Satz eine Metapher für Zukunft als ein weitaus höheres Potential an Möglichkeiten als ihre Anlagen dazu gegenwärtig erscheinen. Und seit Leibniz hat sich dieses Potential ja noch um ein gerüttelt Maß erhöht.

Da die Dichte der Möglichkeiten exponentiell zur gegenwärtigen Beschleunigung der zivilisatorischen Entwicklung zunimmt, ist die Folge eine Art Konfrontationskurs des Hierundheute mit dem Morgen: War einst mit der Zukunft, die es, leichthin gesagt, weisen würde, meist die Sintflut hinter einem gemeint, so steht sie einem unterdessen noch bevor. Als Grund dafür wird die Kumulation des technischen Fortschritts namhaft gemacht. Keine vernünftige Entscheidung kann noch getroffen werden, ohne daß dabei nicht nur die Welt, wie sie (scheinbar) ist, sondern auch die Welt, wie sie (theoretisch) sein wird, in Betracht gezogen wird.


Macht und (traditionelle) Kunst sind sich jedoch eins im Widerstand dagegen. Als ein Projekt des Entwurfs von Gegenwelten gründet ihrer beider Selbstverständnis in der Abgrenzung zum kulturellen Geschehen: des Kippens der materiellen Kultur in eine der Immaterialien, währenddessen immer weniger wird, was so ist, wie es zu sein scheint.


Im Oktober 1988 führten an sich autonome, durch ihren funktionalen Gegenstand jedoch quasi-vernetzte Computerprogramme einen Börsencrash herbei, in dessen Folge eine Menge Geldes verschwand, dessen einzige Realität seit je eine virtuelle gewesen war.

Über 60 Prozent der Beschäftigten sind mittlerweile mit dem Erzeugen, Sammeln, Verarbeiten oder Verteilen von Informationen beschäftigt, weit mehr Menschen arbeiten an Universitäten als in der Landwirtschaft, und mittlerweile hat sich der Computer auch zum eifrigsten Telefonkunden entwickelt; die Leitungen dienen zum Großteil der Kommunikation von Computern untereinander.

Die Mobilität der Information ist somit auch jene Ressource, aus der die Gesellschaft der Zukunft ihre maßgebliche Antriebskraft beziehen wird. Und in dem Ausmaß, in dem der Stellenwert des Endproduktes als Distributionsobjekt in der Folge einer ubiquitären Verfügbarkeit von Information schwindet, gewinnt die Mobilität der Information, der Idee an Terrain. Das industrielle Weltbild (das den Bauern auf die Milchflasche hin orientierte) löst sich im informationellen auf, das auch den Künstler auf die Theorien der Entscheidung, Informatik, Kybernetik, die Theorien der Zukunft hin orientiert. Zukunft ist ein ontologischer Aspekt unserer Gegenwart geworden, nicht mehr wie früher Gegenstand der Prognose. Der Ingenieur-Künstler trägt diesem Aspekt Rechnung. Zum ersten Mal ist der Künstler nicht Beobachter und Interpret des kulturellen Wandels, sondern eine seiner unmittelbaren Folgen!


Den schönen Schein wahrt indes der Mehrheitskünstler. (Er ähnelt darin dem Bauern in vorindustrieller Zeit. Dem, so Vilem Flusser, war Wirklichkeit ein in seine Obhut gelegtes Wesen; er hämmerte die Sense noch im Hinblick auf die Pflanze. Der industrielle Bauer melkt im Hinblick auf die Flasche.) Kommt aber Zukunft ins Spiel, hört sich der Spaß einer Proliferation veritabler Hänge- und Stehwaren auf; dann ist Kunst der utopische "Nichtort" zu ihrer Erforschung. Zugleich Projekt und Projektion der Zukunft, liefert sie keinen Hintergrund mehr für eine Politik, die in den Tag hinein plant; keinen Spiegel ihrer Präsenz. Denn vor dem Hintergrund der Zukunft heben sich geläufige Bedeutungsunterschiede zwischen Staatsoper und Lipizzaner, Seminaren für Malerei und kreative Selbsterfahrung, Friedensreich Hundertwasser und Arnulf Rainer, Mozarkugel und Christian Ludwig Attersee auf.


Durch das Programm ZERO hat die SKI Exponenten eines prospektiv, daher automatisch technisch orientierten Kulturverständnisses ein Möglichkeitsfeld eröffnet, neue, mutmaßliche und theoretisch [2] vorhergesagte kulturelle (wirtschaftliche, politische, künstlerische) Bedingungen auszuloten, praktisch, didaktisch, experimentell.

Die Prämissen des avancierten kulturellen Diskurses, auf die sich ZERO berief, hatten nicht zuletzt auch programmatische Konsequenzen für die SKI.

Immer schon auch als Gegenpol zu einer am Kunstmarkt orientierten Betriebsamkeit gedacht, war es ihr die längste Zeit vor allem um die Realisierung von Kunstprojekten im urbanen Raum zu tun. Dieses Modell, Künstlern ein Arbeitsfeld in der Gesellschaft zu eröffnen, setzte die Leistungsfähigkeit der Kunst, ihre gesellschaftliche Relevanz voraus.

Mit ZERO wurde erstmals auch Technikern die Kunst im Sinne eines Vorfeldes gesellschaftlicher Entwicklungen eröffnet. Zur Realisation kamen durch ZERO daher Projekte, für die elektronische Medien denn auch tatsächlich seinskonstituierende Bedeutung hatten und nicht bloß Mittel der Reproduktion beziehungsweise Distribution der im eigentlich produktiven Sinn engagierten Medien des Bildes, der Musik oder der Literatur waren. Ebenso wie heute das Werk, der Knoten, nicht losgelöst vom Netz des kulturellen Environments zu verstehen ist, ist es auch der neue Künstler nicht - im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der bloß in die Kunst verstrickt war. Weder wollte der Anschein großer innovatorischer Leistungen erweckt werden, noch durch bloße Industrie-Standard-Anwendungen ein Kunst-Spektakel medienwirksam verkauft werden; deklariertes Ziel war es vielmehr, eine allgemein leicht zugängliche Infrastruktur für die Arbeit mit den Medien zu schaffen, über die am Ende wesentliche Fragestellungen auf der Basis praktischer Erfahrungen formuliert werden könnten.


Wir haben keine Kulturpolitik, die ihren Namen dadurch rechtfertigte, daß sie etwa kulturphilosophische, wissenschafts- oder medientheoretische Überlegungen in der gesellschaftlichen Realität Rechnung tragen würde, ganz zu schweigen von Institutionen, Einrichtungen, durch die solche Überlegungen ästhetisch, sozial, politisch, experimentell überprüft werden könnten und kulturpolitische Orientierung auf der Ebene des Staates ermöglichte. Wir haben allenfalls eine Kunstpolitik, die sich am Image orientiert, die ihr Kunst zu verschaffen imstande ist.

ZERO war eine Kulturinitiative nicht durch, sondern im Hinblick auf eine mögliche künftige Bedeutung von Kunst. ZERO war insofern ein kulturelles Experiment, als mit der Technik künftige und gleichermaßen in ihrer Anlage bereits vorhandene gesellschaftliche Bedingungen angenommen wurden und implizit als fragwürdig erachtet wurde, ob das Selbstverständnis der Gesellschaft überhaupt noch relevant ist angesichts des kulturellen Wandels. Das Gelingen oder Scheitern des Experimentes bemißt sich nicht am Projekt ZERO, sondern an der künftigen Ausrichtung der SKI als experimentelle Kulturpolitik.


[1]Herbert George Wells (1866 - 1946) Roman "Die Zeitmaschine" erschien 1895.
[2] Wird eine Theorie von Physikern daraufhin befragt, ob sie die Lichtgeschwindigkeit "voraussage", dann nicht danach, ob sie erklärt, wie groß morgen die Geschwindigkeit des Lichts sein werde, sondern ob es diese Theorie ermöglichen würde, die Geschwindigkeit des Lichts zu bestimmen, ohne sie zu messen? ("Eine gute Theorie", so Stephen Hawking, "sollte uns auch sagen, welche Beobachtungen erweisen können, das sie nicht korrekt ist.") Auch Leibniz Satz, daß die Gegenwart schwanger von der Zukunft sei, muß im naturwissenschaftlichen Sinn interpretiert werden.


ZERO - Knoten im Netz