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an ear for an eye (Ein Ohr für ein Auge)

„Aber alles, was Radio ist, Morty,
macht deinen Ohren nur das zugänglich,
was schon in der Luft lag und
für deine Ohren schon zugänglich war,
aber du konntest es nicht hören.
Mit anderen Worten, es macht nur etwas wahrnehmbar,
in dem du bereits drin bist.
Du wirst in Radiowellen gebadet …“

John Cage
im Gespräch mit Morton Feldman

Sie wissen es vielleicht nicht, aber lange bevor Sie irgendetwas anderes tun konnten, habe Sie bereits gehört. Von viereinhalb Monaten an haben Sie im Bauch, in dem Sie herangewachsen sind, in Klängen gebadet: Sie haben die Stimme Ihrer Mutter empfangen, ihren Herzschlag oder das Rumoren in ihren Därmen gehört. Ob sie nun atmete, lachte, schluckte oder weinte, Sie haben ihr zugehört, lange bevor Sie etwas gesehen oder geschmeckt haben oder Farben unterscheiden konnten. Und weil Sie wie schwerelos umherschwebten, dürften Sie auch wenig gespürt haben. Es gab nichts außer Klang.
Dann haben Sie dieses Klangbad verlassen: Sie wurden geboren, womit – wie Walter Murch schreibt – plötzlich und schlagartig alle anderen Sinne ins Spiel kommen und Klänge an Bedeutung verlieren.
In unserer sinnlichen Wahrnehmung der Welt gibt es jedoch keine Trennung von Klang und Bild (sofern nicht eine körperliche Beeinträchtigung vorliegt). Es ist auch sehr schwer, sich vorzustellen, dass im Universum oder auf der Erde Totenstille herrscht. Selbst wenn wir in einem absolut schalldichten Raum eingeschlossen wären, würden wir – wie John Cage bewiesen hat – das Pochen unseres Herzschlags, das in unseren Adern zirkulierende Blut und erst recht unser lautes Atmen hören. Nicht von ungefähr haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildende Künstler und Künstlerinnen damit begonnen, Klänge in ihre Werke zu integrieren. Aber bereits davor haben andere Kunstformen mit Bild und Klang gearbeitet – man denke nur an das Kino.

Dieses Auge hat Zähne
Dieses Auge hat eine Zunge
Dieses Auge spricht

Ein Punkt im Raum kann gleich weit entfernt sein. Es ist nur eine Frage der Definition dieses Raumes: das leere Glasbecken eines Aquariums, das ein Soundstudio ist … der Abstand zwischen dem Klang und dem Schädel, auf dem ein Kopfhörer sitzt … der Punkt zwischen Ihren Ohren oder nur der Abstand zwischen Ihren Ohren?
Nach gängiger Vorstellung sind die beiden Gehirnhälften auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert. Um zuzuhören genügt es aber schon, dass Wellen ins Ohr strömen und es in Schwingung versetzen. Es gibt keinen Mangel an Geräten, die diese Erfahrung verstärken, sodass der Akt des Hörens wesentlich mehr umfasst als den komplexen Raum zwischen unseren Ohren. Dann dreht irgend jemand am Knopf oder klickt vielmehr auf ein Symbol, man lebt ja im digitalen Zeitalter, in dem das Konzept von „Radio“, wie wir es kennen, in null Komma nichts zwischen den Hohlräumen und der Homogenisierung globalisierter Medienpraktiken dekonstruiert wird. Klar, es ist eine große Revolution. Noch eine … Und auch diesmal sind die üblichen Unkenrufe vom Tod des Radios zu vernehmen. Dabei lassen aktuelle Entwicklungen eher darauf schließen, dass sich die Zentralisierung der Massenmedien ihrem Ende zuneigt, denn die Existenz virtueller, unabhängiger, privater, interaktiver Sender markiert nicht nur eine signifikante Veränderung in der Tradition des Radios, sondern wirft auch ein Licht auf Ideen, die bereits 100 Jahre alt sind, wie z.B. die Botschaft der Radiopioniere Reginald Fessenden und Lee de Forest, die als „broadcast yourself“ zum Slogan von YouTube wurde.

Das sind nur ein paar Schritte in dem „Tanz“, dennoch scheint man an diesem pessimistischen Standpunkt, der sich regelmäßig als falsch erwiesen hat, weiterhin festzuhalten, vielleicht weil sich dieses Mal eine ästhetische Unterscheidung am Horizont abzeichnet, die auch eine veränderte ästhetische Praxis erfordert: im Multimedia-Zeitalter bringt das Radio auch Bilder – und nicht nur Hörbilder.

Die Grenzen zwischen Klang- und Bildkunst sind nicht immer klar definiert, vielmehr werden im Dialog zwischen KünstlerInnen und TheoretikerInnen Kontrapunkte gesetzt, wenn die Kunst eines unabhängigen Radios neue Möglichkeiten eröffnet. Veränderungen stellen somit keine Bedrohung dar, sondern sind eine reizvolle Herausforderung, das Radio wieder einmal neu zu erfinden.

Das Bild im Radio

Mit der Frage nach den Möglichkeiten des Bildes brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten, ich möchte nur zwei Aspekte der Wahrnehmung hervorheben: Zum einen das Bild, das an sich schon Klang ist, weil es etwa platzende Seifenblasen zeigt oder einen Sturm oder eine Person, die einer anderen etwas ins Ohr flüstert. Wenn wir so ein Bild sehen, haben wir sofort den Klang dazu im Ohr.

Zum anderen Bilder, die einen Bezug zum Hören herstellen, was auf viel indirektere Weise geschieht. Man betrachtet die Füße in Botticellis allegorischer Darstellung Primavera [„Der Frühling“] – und schon wird die Erinnerung in Gang gesetzt, schon schweifen die Gedanken durch die Geschichte der Malerei, selbst wenn sie die gewohnten Pfade verlassen und man Galenitkristalle auf ebendiese Füße fallen hört. Auch das „Bild im Radio“ entsteht, indem eine ganze Reihe von Bezügen hergestellt wird, zu denen u.a. die Geschichte der akustischen Medien und der Visualität gehört.

In diesem Zusammenhang erweist es sich als recht nützlich, sich daran zu erinnern, welche Wirkung die Stimme von Jean Négroni in Chris Markers Film La Jetée aus dem Jahr 1962 hat. Indem Marker fast ausschließlich Standbilder montiert, verdichtet sich das filmische Narrativ im bekenntnishaften Ton von Négronis Kommentar. Er selbst meinte später dazu: „Ich hatte die sonore, temporeiche Stimme eines Erzählers.“ Eine innere Stimme, wie sie oft aus dem Radio zu uns spricht. Ein ähnlich bekenntnishafter Erzählton kennzeichnet auch Blue, den letzten Film von Derek Jarman, der mit seinen verbalen Reflexionen nur ein monochromes blaues Standbild untermalt. Die Beziehung zwischen Lesen und Sehen wiederum manifestiert sich in Godards Film Nouvelle Vague, in dem Alain Delon ständig zu sich selbst spricht, wobei viele ZuseherInnen seine Stimme mit Radio assoziieren. Es gibt noch andere Beispiele, wenn auch bei ihnen die Bezüge nicht immer so offenkundig sind, keinesfalls vergessen werden sollte jedoch der Ansatz, Animationsfilmen oder Cartoons als „Musik zu sehen“.

Germanos Celant weist darauf hin, dass das Zusammenwirken von Bild- und Klangkunst nicht nur ein Phänomen der Gegenwart ist, sondern schon eine längere Geschichte hat, da bereits im 17. Jahrhundert medienübergreifend gearbeitet wurde, um jenen sensorischen Raum zu erforschen, der sich nicht so recht in die westliche Tradition mit ihren schematischen Koordinaten einfügen will. Der Dialog zwischen den künstlerischen Disziplinen ist charakteristisch für die gesamte Moderne, wie er auch die Entwicklung synästhetischer Beziehungen zwischen verschiedenen Kommunikationssprachen fördert, um zu einer anderen, unkonventionellen Ordnung zu gelangen.

Aber inwieweit sind diese Bilder Radio?

Die Sprache ist der Ort, von dem aus man die Welt sieht
und in dem die Grenzen unseres Denkens und Fühlens
abgesteckt sind.
Vergílio Ferreira

Was schließt unsere Augen?
Was öffnet unsere Ohren?

Wenn Ohren sehen können, dann ist die Sprache des Löwen sein Brüllen, das die Augen überflutet. Es stellt sich aber immer noch die Frage, wie sich das Hören in einem Bild festhalten lässt. Wenn wir Vom Winde verweht im Fernsehen oder auf DVD sehen, ist dann dieses Werk noch ein Film oder schon ein Video? Ist ein MP3-File noch Musik? Ist ein Radio, das ein bestimmtes Programm sendet, aber an keine Rundfunkanstalt angeschlossen ist, noch Radio? Radio außerhalb des Radios? Radio jenseits von Radio? Radiokunstarbeiten könnten die auditive Wahrnehmung beleben und schärfen, bietet das Medium doch auch die Möglichkeit, ein Bild aus einer akustischen Perspektive neu zu betrachten. Ohne das Hören aus den Augen zu verlieren, ohne Sinn und Zweck des Zuhörens außer Acht zu lassen. Ja, eine gewaltige multimediale Herausforderung, wobei allen klar sein dürfte, dass wir noch ganz am Beginn der Entwicklung stehen.

Eines Tages werde ich die richtigen Worte finden,
und sie werden einfach sein.
Jack Kerouac

Radio malt uns nun auch visuelle Landkarten.
neu gebildete Worte …
dekonstruierte Worte …
kreuz und quer gesprochene Worte …
eingefangene Stimmen …
Stimmen bahnen sich ihren Weg zu Ohren, die Augen haben und sehen.
„an ear for an eye“ - Ein Ohr für ein Auge.
Und immer wieder fragt jemand: „Ist das Radio?“
Radio erwacht zu neuem Leben.

In meiner wöchentlichen Radiosendung Rádio Mirabilis auf MEC-FM (einem öffentlichen, via Satellit und on-line zu empfangenden Sender in Rio de Janeiro) habe ich im Laufe der letzten zehn Jahre viele Werke präsentiert. Die in diesem Radioraum vorgestellten künstlerischen Arbeiten umfassen Soundscapes und Soundart im Audio-/Radioformat – das zwar sehr potent ist, aber den visuellen Teil dieser Installationen bzw. die Fotos und Filme, die den Ton begleiten, nicht beinhaltet. Dieses Material (das noch nicht live über den Äther geht) ist auf Plattformen wie Facebook bereits sehr präsent.

Als Kuratorin stelle ich allerdings keine These auf – ich möchte einfach die Bandbreite der Positionen zeigen, die brasilianische Künstler und Künstlerinnen zum Thema Gegenwart und Zukunft des Radios zu bieten haben.

Die Arbeiten von Alex Hamburger und Lenora de Barros verweisen auf die Tradition von neuer Lyrik, Lautpoesie und Spoken Word Performance und erforschen die unerschöpfliche Vielfalt der Töne in all ihren Facetten. Marco Scarassatti formt Klangskulpturen, die an Walter Smetak, den Wegbereiter der „plásticas sonoras“ in Brasilien, anknüpfen. Thelmo Cristovam fokussiert seine künstlerischen Aktivitäten vor allem auf Soundscapes, während Vivian Caccuri die Beziehung zwischen Klangphänomenen in öffentlichen Räumen erforscht. Der Künstler Cadu Tenório steht in engem Kontakt mit den elektronischen und experimentellen Musikszenen von Rio de Janeiro; seine Arbeit basiert auf Field Recordings, Tape-loops, präparierten Instrumenten und den Klängen und Geräuschen von Alltagsgegenständen. Die jungen Musiker des Trios DEDO reflektieren in Stücken wie dash-cam den aktuellen Trend, Musik und Klang mit Bildern zu verbinden.

(Übersetzung: Friederike Kulcsar) ______________________________________________________ Zitate:
J. Cage: Radio Happening, 9. Juli 1966, in: MusikTexte 45, Köln 1992
V. Ferreira: Tagebücher
J. Kerouac: Gammler, Zen und hohe Berge