[english] an ear for an eye (Ein Ohr für ein Auge)
Sie wissen es vielleicht nicht, aber lange bevor Sie irgendetwas anderes tun konnten, habe Sie bereits gehört. Von viereinhalb Monaten an haben Sie im Bauch, in dem Sie herangewachsen sind, in Klängen gebadet: Sie haben die Stimme Ihrer Mutter empfangen, ihren Herzschlag oder das Rumoren in ihren Därmen gehört. Ob sie nun atmete, lachte, schluckte oder weinte, Sie haben ihr zugehört, lange bevor Sie etwas gesehen oder geschmeckt haben oder Farben unterscheiden konnten. Und weil Sie wie schwerelos umherschwebten, dürften Sie auch wenig gespürt haben. Es gab nichts außer Klang.
Ein Punkt im Raum kann gleich weit entfernt sein. Es ist nur eine Frage der Definition dieses Raumes: das leere Glasbecken eines Aquariums, das ein Soundstudio ist … der Abstand zwischen dem Klang und dem Schädel, auf dem ein Kopfhörer sitzt … der Punkt zwischen Ihren Ohren oder nur der Abstand zwischen Ihren Ohren? Das sind nur ein paar Schritte in dem „Tanz“, dennoch scheint man an diesem pessimistischen Standpunkt, der sich regelmäßig als falsch erwiesen hat, weiterhin festzuhalten, vielleicht weil sich dieses Mal eine ästhetische Unterscheidung am Horizont abzeichnet, die auch eine veränderte ästhetische Praxis erfordert: im Multimedia-Zeitalter bringt das Radio auch Bilder – und nicht nur Hörbilder. Die Grenzen zwischen Klang- und Bildkunst sind nicht immer klar definiert, vielmehr werden im Dialog zwischen KünstlerInnen und TheoretikerInnen Kontrapunkte gesetzt, wenn die Kunst eines unabhängigen Radios neue Möglichkeiten eröffnet. Veränderungen stellen somit keine Bedrohung dar, sondern sind eine reizvolle Herausforderung, das Radio wieder einmal neu zu erfinden.
Mit der Frage nach den Möglichkeiten des Bildes brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten, ich möchte nur zwei Aspekte der Wahrnehmung hervorheben: Zum einen das Bild, das an sich schon Klang ist, weil es etwa platzende Seifenblasen zeigt oder einen Sturm oder eine Person, die einer anderen etwas ins Ohr flüstert. Wenn wir so ein Bild sehen, haben wir sofort den Klang dazu im Ohr.
Zum anderen Bilder, die einen Bezug zum Hören herstellen, was auf viel indirektere Weise geschieht. Man betrachtet die Füße in Botticellis allegorischer Darstellung Primavera [„Der Frühling“] – und schon wird die Erinnerung in Gang gesetzt, schon schweifen die Gedanken durch die Geschichte der Malerei, selbst wenn sie die gewohnten Pfade verlassen und man Galenitkristalle auf ebendiese Füße fallen hört. Auch das „Bild im Radio“ entsteht, indem eine ganze Reihe von Bezügen hergestellt wird, zu denen u.a. die Geschichte der akustischen Medien und der Visualität gehört. In diesem Zusammenhang erweist es sich als recht nützlich, sich daran zu erinnern, welche Wirkung die Stimme von Jean Négroni in Chris Markers Film La Jetée aus dem Jahr 1962 hat. Indem Marker fast ausschließlich Standbilder montiert, verdichtet sich das filmische Narrativ im bekenntnishaften Ton von Négronis Kommentar. Er selbst meinte später dazu: „Ich hatte die sonore, temporeiche Stimme eines Erzählers.“ Eine innere Stimme, wie sie oft aus dem Radio zu uns spricht. Ein ähnlich bekenntnishafter Erzählton kennzeichnet auch Blue, den letzten Film von Derek Jarman, der mit seinen verbalen Reflexionen nur ein monochromes blaues Standbild untermalt. Die Beziehung zwischen Lesen und Sehen wiederum manifestiert sich in Godards Film Nouvelle Vague, in dem Alain Delon ständig zu sich selbst spricht, wobei viele ZuseherInnen seine Stimme mit Radio assoziieren. Es gibt noch andere Beispiele, wenn auch bei ihnen die Bezüge nicht immer so offenkundig sind, keinesfalls vergessen werden sollte jedoch der Ansatz, Animationsfilmen oder Cartoons als „Musik zu sehen“. Germanos Celant weist darauf hin, dass das Zusammenwirken von Bild- und Klangkunst nicht nur ein Phänomen der Gegenwart ist, sondern schon eine längere Geschichte hat, da bereits im 17. Jahrhundert medienübergreifend gearbeitet wurde, um jenen sensorischen Raum zu erforschen, der sich nicht so recht in die westliche Tradition mit ihren schematischen Koordinaten einfügen will. Der Dialog zwischen den künstlerischen Disziplinen ist charakteristisch für die gesamte Moderne, wie er auch die Entwicklung synästhetischer Beziehungen zwischen verschiedenen Kommunikationssprachen fördert, um zu einer anderen, unkonventionellen Ordnung zu gelangen. Aber inwieweit sind diese Bilder Radio?
Was schließt unsere Augen?Wenn Ohren sehen können, dann ist die Sprache des Löwen sein Brüllen, das die Augen überflutet. Es stellt sich aber immer noch die Frage, wie sich das Hören in einem Bild festhalten lässt. Wenn wir Vom Winde verweht im Fernsehen oder auf DVD sehen, ist dann dieses Werk noch ein Film oder schon ein Video? Ist ein MP3-File noch Musik? Ist ein Radio, das ein bestimmtes Programm sendet, aber an keine Rundfunkanstalt angeschlossen ist, noch Radio? Radio außerhalb des Radios? Radio jenseits von Radio? Radiokunstarbeiten könnten die auditive Wahrnehmung beleben und schärfen, bietet das Medium doch auch die Möglichkeit, ein Bild aus einer akustischen Perspektive neu zu betrachten. Ohne das Hören aus den Augen zu verlieren, ohne Sinn und Zweck des Zuhörens außer Acht zu lassen. Ja, eine gewaltige multimediale Herausforderung, wobei allen klar sein dürfte, dass wir noch ganz am Beginn der Entwicklung stehen.
Radio malt uns nun auch visuelle Landkarten. In meiner wöchentlichen Radiosendung Rádio Mirabilis auf MEC-FM (einem öffentlichen, via Satellit und on-line zu empfangenden Sender in Rio de Janeiro) habe ich im Laufe der letzten zehn Jahre viele Werke präsentiert. Die in diesem Radioraum vorgestellten künstlerischen Arbeiten umfassen Soundscapes und Soundart im Audio-/Radioformat – das zwar sehr potent ist, aber den visuellen Teil dieser Installationen bzw. die Fotos und Filme, die den Ton begleiten, nicht beinhaltet. Dieses Material (das noch nicht live über den Äther geht) ist auf Plattformen wie Facebook bereits sehr präsent. Als Kuratorin stelle ich allerdings keine These auf – ich möchte einfach die Bandbreite der Positionen zeigen, die brasilianische Künstler und Künstlerinnen zum Thema Gegenwart und Zukunft des Radios zu bieten haben. Die Arbeiten von Alex Hamburger und Lenora de Barros verweisen auf die Tradition von neuer Lyrik, Lautpoesie und Spoken Word Performance und erforschen die unerschöpfliche Vielfalt der Töne in all ihren Facetten. Marco Scarassatti formt Klangskulpturen, die an Walter Smetak, den Wegbereiter der „plásticas sonoras“ in Brasilien, anknüpfen. Thelmo Cristovam fokussiert seine künstlerischen Aktivitäten vor allem auf Soundscapes, während Vivian Caccuri die Beziehung zwischen Klangphänomenen in öffentlichen Räumen erforscht. Der Künstler Cadu Tenório steht in engem Kontakt mit den elektronischen und experimentellen Musikszenen von Rio de Janeiro; seine Arbeit basiert auf Field Recordings, Tape-loops, präparierten Instrumenten und den Klängen und Geräuschen von Alltagsgegenständen. Die jungen Musiker des Trios DEDO reflektieren in Stücken wie dash-cam den aktuellen Trend, Musik und Klang mit Bildern zu verbinden.
(Übersetzung: Friederike Kulcsar)
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