Stadtflucht: 10m/sec
Ein Ruheraum im Gebirge

von Bernhard Kathan

Seegrube 9.7. - 31.10.2003
Kunstradio 27.7.2003 23:05 CEST auf Radio Ö1

Die Kunst der letzten zehn Jahre kennt eine Reihe von Ruheraumprojekten, die trotz aller Gemeinsamkeiten völlig unterschiedlich motiviert und kontextualisiert sind.
Brian Eno hat vor einigen Jahren im Stedelijk-Museum Amsterdam einen dunklen Raum eingerichtet und mit entspannender Musik bespielt. Der stockfinstere Raum wurde schnell zum Treffpunkt für Angestellte aus den umliegenden Büros. Sie brachten mittags ihre Jausenpakete mit und verzehrten sie im Dunkeln. Als Ruheräume lassen sich auch manche Rauminstallationen von James Turell erfahren. Hält man sich länger in ihnen auf, kann einen das Bedürfnis überfallen, sich auf den Boden zu legen, um zu erleben wie die Augen allmählich beginnen, in der Dunkelheit Konturen wahrzunehmen und das Gehör sich in ungewohnter Weise als empfänglich erweist.
Ruheräume finden sich heute gehäuft im Wellness-Bereich. Meist handelt es sich um geschmacklos möblierte und bebilderte Räume mit einfallsloser Musikbeschallung, deren einzige Funktion darin besteht, die drohende Leere zu überdecken oder Gespräche vor den Ohren Dritter abzuschirmen. Wandtapeten mit Naturlandschaften oder durch Umlaufpumpen betriebenes Wassergeplätscher zeigen die übliche Hilflosigkeit, mit der solche Ruheräume eingerichtet werden. Eine der wenigen diesbezüglichen Ausnahmen ist der von Peter Zumthor in der Therme Vals geschaffene Ruheraum mit Steinmusik von Fritz Hauer.
Offensichtlich kennen heute viele Menschen das Bedürfnis nach Räumen, in denen man wieder zu sich selbst kommen, sich dem entlastenden Strom von Gedanken und Empfindungen überlassen kann. Ein Ruheraum im Gebirge entbehrt nicht einer gewissen Ironie, schreit doch das Gebirge heute selbst nach Ruhe. Was aber, wenn es die sogenannte Naturlandschaft in einem intensiv genutzten und im Laufe von Jahrzehnten völlig neu gestalteten Gelände wie der Seegrube gar nicht mehr gibt, wenn sich zur Natur bestenfalls noch jene Kulissen zählen lassen, die sich im Hintergrund als Gebirgsmassive erheben.
Ein Ruheraum vermag diesen Zwiespalt nicht zu lösen. Er ist bestenfalls ein temporäres Angebot, sich auf eine Erfahrung einzulassen, die es ermöglich soll, sich jenseits aller Gewohnheiten und Interessen anderen Erfahrungen zu öffnen.
Auffallenderweise überwiegt in den Soundarbeiten, die für diesen Ruheraum geschaffen wurden, Klangmaterial, welches auf den ersten Blick nichts mit dem unmittelbaren Umfeld zu tun haben scheint: hey-o-hansen arbeiten mit urbanen Geräuschen, Igor Lintz-Maués geht von Klängen des Meeres aus, Christof Cargnelli setzt alpinen Naturgeräuschen andere Naturgeräusche entgegen, Dorothee von Rechenberg beschäftigt sich mit der in den Alpen weit verbreiteten Pflanze arnica montana, die im Kalkgestein gerade nicht vorkommt, Peter Szely geht von tektonischen Zeiträumen aus, gegen die die Dauer einer Seilbahnfahrt ein Nichts ist.


Und dennoch beziehen sich all diese Arbeiten auf den Ort selbst. Es liegt gar nicht so fern, auf der Nordkette an das Meer zu denken. Das Kalkgestein hat sich einst aus dem Meer gehoben. Gebirgsbeschreibungen kennen viele Meeresmetaphern. Manchmal scheinen die Nebel wie Wellen an die Felsen zu branden. Und schließlich lassen die weißen Anzüge der Kellner, die in den 30er Jahren zwischen Schneewächten Bier und Braten servierten, an Kellner auf einem Luxusdampfer denken. Der offensichtlichste Bezug zur Nordkettenbahn findet sich bei Barbara Huber, die die Geräusche einer Fußwanderung exakt auf die Dauer einer Seilbahnfahrt zwischen Tal- und Mittelstation verkürzt. Andrea Sodomka wiederum beschäftigt sich mit dem Ineinandergreifen von Naturgeräuschen und technisch gestalteter Umgebung. Se-Lien Chuang hat sich zwar vor Ort in die Geräuschwelt hineingehört, aber sie lässt uns etwas hören, als käme es ganz aus der Ferne.
All dies ist in einem Ruheraum, will man ihn ernst nehmen, selbst angelegt. Jede Ruheerfahrung bedeutet eine Distanzierung, mag sie auch nur im Kopf oder im Nervensystem geschehen. So kippt das Nahe in die Ferne und das Ferne in das Nahe. Besteigen wir nicht doch auch Berge, benützen wir nicht die Seilbahn, um unseren Blick in die Ferne schweifen zu lassen?


Bernhard Kathan