Ein Symposion zur Theorie und Praxis einer Kunst im elektronischen Raum. Am Beispiel der Radiokunst.
IM SPIEGELKABINETT
Wirklichkeitskonstruktion in den Medien

von
Robert Höldrich



Für die Konstruktion meiner Wirklichkeit stehen zwei Arten von Information zur Verfügung. Die unmittelbare, durch sinnliche Erfahrung gewonnene und die mittelbare, mitgeteilte.

Ich benötige Werkzeuge, um Information zu erschließen. Mit den Händen "begreife" ich den Stein, mit den Augen betrachte ich den Tisch, mit dem Dosenöffner öffne ich die Fischkonserve, um den Inhalt mit der Gabel essen zu können. Mein Gedächtnis prüft die Konsistenz meiner direkten Sinneseindrücke, versucht Täuschungen zu vermeiden. So konstruiere ich ein adäquates Bild der Welt, ich erlange Wissen über die Welt. Das passiert täglich. Es ist einfach. Die Werkzeuge zur Erschließung mittelbarer Information sind Medien. Diese tran portieren etwas, das meiner direkten sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich ist. Ein Bekannter erzählt am Telefon von seinem Urlaub, in der Zeitung lese ich von einem Flugzeugabsturz in Asien, im Radio höre ich die Wettervorhersage für morgen. Das passiert immer öfter. Es ist nicht einfach.

Mein Freund, das Telefon, die Zeitung, das Radio scheinen Werkzeuge zur Erweiterung meiner Sinnesorgane, zur Erschließung der Wirklichkeit - wie mein Dosenöffner - zu sein. Ich kann weiter schauen, weiter hören, weiter greifen. Im Unterschied zur unmittelbaren, sinnlichen Erfahrung ist es aber schwer möglich, durch vermittelte (= "mediale") Information Wissen über die Welt zu erlangen. Medien sind nicht nur reine Vermittler von Daten, Informationen oder Sachverhalten. Vielmehr verarbeiten sie diese Daten, transformieren Sachverhalte und erzeugen dadurch neue Realität.

Natürlich möchte ich auch aus dieser zweiten Form von Information ein adäquates Bild der Welt, also handlungsrelevantes Wissen, extrahieren. Würde ich sie nur als Trugbild betrachten und für die Konstruktion meines Weltbildes unberücksichtigt lassen, wäre mein Handlungsspielraum räumlich und zeitlich eingeschränkt. Ich lebte wie im Spiegelkabinetteines Rummelplatzes. Das andere Extrem, alles, was mir vorgesetzt wird, für bare Münze zu nehmen, wäre auch unklug. Ich wäre naiv, leichtgläubig und für jedermann als willfährige Maschine verwendbar. Zwei, zum Teil überlappende Arten der Analyse können helfen, das Problem zu lösen. Erstens die Untersuchung des Inhalts der medialen Information. Dabei prüfe ich die logische Konsistenz eines übermittelten Sachverhaltes, aufgrund von Erfahrung kann ich versuchen, die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens abzuschätzen und die Glaubwürdigkeit bzw. die Intentionen des Mediums zu beurteilen. Behauptet mein Bekannter, er habe seinen Urlaub auf dem Mars verbracht, so ist das zu unwahrscheinlich, als daß ich es glauben könnte. Belügt er mich mehrmals, kann ich ihn mit Sanktionen belegen. Ich glaube ihm überhaupt nichts mehr, und was er sagt, büßt seine Wirksamkeit auf mich ein. Alle diese Verfahrensweisen existieren, seit es menschliche Kommunikation gibt, und sind gut entwickelt.

Wo ein logisch konsistent dargestellter Sachverhalt keinen Vergleich mit meiner gesicherten Erfahrung zuläßt und ich nicht einfach daran glauben will, bleibt nur der zweite, viel schwierigere Weg: Ich muß versuchen, die Struktur der Informationsverarbeitung, der Transformation von Sachverhalten, durch die Analyse der Apparate und Algorithmen zu erkennen. Wie die Zerrbilder des Spiegelkabinetts mit einiger Anstrengung durch die Gesetze der geometrischen Optik erklärt werden können und dadurch kritische Distanz zum schönen Schein gewonnen wird, so können durch die "Feststellung der Bestandteile" (= Analyse) der Transformationsprozesse in Medien die Möglichkeiten ihrer Wirklichkeitskonstruktion erhellt werden. Im Gegensatz zum Spiegelkabinett mit seinen einfachen, in mathematischen Formeln faßbaren Abbildungsmechanismen ist dieses Erkennen bei elektronischen Medien wie Radio, Fernsehen und komplexen Datennetzen oder beim Menschen schwierig. Die Strukturen menschlicher Informationsverarbeitung, des Wahrnehmungsapparats und der Wirklichkeitskonstruktion sind Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung in Neurophysiologie, Psychologie oder Philosophie. Bei der Analyse elektronischer Medien ist neben systemtheoretischen, soziologischen und kommunikations-wissenschaftlichen Ansätzen auch die Untersuchung der technischen Apparate hilfreich.

Am Beispiel "Radio" will ich versuchen, die Möglichkeiten medialer Wirklichkeitskonstruktion anhand der Verwendung dieser Apparate zu beschreiben. Meiner außermedialen Wahrnehmung liegen basale Voraussetzungen zugrunde, wie die sichere Fähigkeit zur raumzeitlichen Einordnung eines beobachteten Ereignisses oder die Integrität der akustischen (und optischen) Wahrnehmung. Es wird sich zeigen, daß diese Invarianten durch die technischen Apparate außer Kraft gesetzt werden. Die Apparate können "affirmieren, was nicht ist" (Friedrich Kittler: Fiktion und Simulation, In: Philosophien der neuen Technologie, hrsg. ars electronica, Berlin 1989), hier: was so in Raum und Zeit nicht ist. Die Erklärung des Phänomens "Radio" oder gar der elekronischen Medien allein an diesen Geräten festzumachen, griffe sicherlich zu kurz, zumal ihre voneinander getrennte Behandlung die vielfältigen Funktionsverknüpfungen unberücksichtigt läßt. Die folgenden Überlegungen beinhalten neben rein technischen Feststellungen auch Aussagen über die beobachtete Verwendung der Apparate und eventuell daraus folgende Konsequenzen für eine "Radiokunst".

Das MIKROPHON wandelt mechanische Schwingungen in elektrische. Die Abbildungsvorschrift ist einfach: Der Frequenzgang ist im angegebenen Bereich linear, die elektrische Spannung folgt der Auslenkung oder Geschwindigkeit der Membran, also eine "ideale" Abbildung der Wirklichkeit. Soweit der Techniker.

Die Abbildung in den elektronischen Bereich ermöglicht Veränderungen, Manipulationen. Der Sachverhalt, hier das Signal, wird seinem Kontext entrissen, er wird seiner optischen Komponente entledigt, wird räumlich flexibel. Das Mikrophon ist also ein Filter, der eine Information hervorhebt, eine andere unterdrückt. Ein Manipulator, der, wie die Kamera, den Blick auf die Totale verstellt und an die Stelle des Ganzen den Auschnitt stellt.

Das Mikrophon fängt Bruchstücke ein, die, zusammengesetzt in einem anderen Raum, in anderem Kontext, wieder zu einem neuen Ganzen, zu einer "Skulptur" im Sinn Fontanas, werden.
Es zerbricht die Einheit räumlicher Distanz. Der Musiker im Studio spielt für das technische Ohr in distanzloser Nähe, sein Publikum ist in der Entfernung entschwunden. Die emotionale Erfahrung verändert sich natürlich für beide, allen Hallgeräten, digitalen Raumsimulatoren und Effektprozessoren zum Trotz. Mit anderen Worten: Das Mikrophon ist ein Skalpell im Fleisch der Wirklichkeit. Der "Radiomacher", ob Redakteur oder Künstler, ist Dr. Frankenstein. Die Sendung ist der Homunculus. Sich dessen bewußt zu werden, bedarf es eines veränderten Verständnisses der Apparatur. "Das Mikrophon, bisher als starres, passives Aufnahmegerät zum Zwecke der möglichst getreuen Klangwiedergabe verwendet, müßte ... ein Musikinstrument werden." (Karlheinz Stockhausen: Mikrophonie I. Universal Edition 1964) Der LAUTSPRECHER, als Spiegelbild des Mikrophons, wandelt elektrische Schwingungen in mechanische. Die Abbildungvorschrift ist... Soweit der Techniker.

Das erste Grammophon, eine bestaunte Wundermaschine, war ein (be)greifbarer Apparat. Hier ich, mir gegenüber das sprechende Ungetüm, der Lautsprecher, dazwischen kritische Distanz. Doch der Lautsprecher ist unsichtbar geworden, versteckt hinter den Abdeckungen meiner HIFI-Boxen, verschwunden im Siegeszug der Klangtreue, unhrbar. "Die Apparatur spiegelt perfekte Apparaturlosigkeit vor" (Ulrich Holbein: Der belauschte Lärm. Frankfurt 1991). Wo nichts ist, gibt's keine kritische Distanz. Was bleibt, ist Schall ohne materielle Ursache. Dieser überlagert meine nichtmediale Realität, kommentiert sie, kontrapunktiert sie, affirmiert sie. Oder er verdrängt sie, zwingt mir seine Bilder auf, zieht mich in eine andere, simulierte Welt.
Nicht die immaterielle Welt der Ideen, der Musik, ist Inhalt einer Live-Übertragung der Salzburger Festspiele, sondern die jetzt stattfindende Aufführung, das Räuspern, der Applaus, die Situation. Objektivität wird vermittelt, ich bin informiert. Das Gefühl, ein adäquates Bild eines Sachverhaltes zu erlangen, steigt, wenn der Bildschirm zum Lautsprecher hinzukommt. (Bukarest 1989, Irak/Kuwait 1991, Moskau 1991). Gegen diese "Authentizität" ist ein Flugsimulator ehrlich, er heißt wenigstens "Simulator".

Der RADIOSENDER moduliert das niederfrequente Nutzsignal auf eine Hochfrequenz (HF), die über eine Antenne abgestrahlt wird. Die elektromagnetischen Wellen pflanzen sich im "Äther" mit Lichtgeschwindigkeitfort, ihre Leistung nimmt mit dem Quadrat der Entfernung von der Sendeantenne ab. Stärkere Sender haben eine größere Reichweite als schwächere. Der Mensch besitzt kein Sinnesorgan für die Wahrnehmung elektromagnetischer Wellen im Frequenzbereich unterhalb von Infrarot. Soweit der Techniker.

Hochfrequente elektromagnetische Wellen müssen nicht über Leitungen geführt werden, sie können ohne sichtbare Verbindung vom Sender zum Empfänger gelangen. Information kann schnell von einem Ort zum anderen tranportiert werden, Adressant und Adressat finden ohne fremde Hilfe zueinander. Weilen machen vor herkömmlichen Territoriumsgrenzen nicht halt, zerstören sie, werden zu Waffen (vgl. Friedrich Kittler: Wellenartillerie. Vortrag beim Symposion "With the Eyes Shut - Bilder Im Kopf" beim Steirischen Herbst 1988). Sie sind machtvoll. Wer Sendefrequenzen kontrolliert, vermeidet Wellensalat und hat ein wachsames Auge aufs Programm. Deshalb gibt es Fernmeldegesetze.
Radiosender haben Potentialität. Es besteht die latente Möglichkeit, sie zu empfangen. Erst durch den Empfang wird die Möglichkeitzu meiner Wirklichkeit. Ein Sender will empfangen werden. Dazu muß seine Potentialität zu meiner werden. Ich höre dann einen Sender, wenn die latente Möglichkeit besteht, daß das Gesendete für mich unterhaltsam, interessant, wichtig, also handlungsrelevant, ist. Für Wetterbericht und vor allem Verkehrsfunk, zwei für das Medium Radio typische Sujets, is die scheinbare Handlungsrelevanz inmittelbar einsnslchtig.

Um mich gefangen zu nehmen, werden Sendungen als 'permanenter Hohepunkt" (Bazon Brock, Training des Rezeptionsvermögens - HörschUlung. In: Ästhetik als Vermittlung, Köln 1977) inszeniert, einer Technik, die für Sport und Propagandaberichterstattung, aber vor allem für die avancierteste Form Von Radio, die Werbung, typisch ist.
Als Korrenspondentenbericht wird die Tonbandaufnahme des Telefongesprächs gesendet, obgleich sich die Verständlichkeit der Nachricht erhöhte, wenn ein Sprecher den Text verlesen Würde (vgl Heidi Grundmann: Radiokunst. h Im Netz der Systeme, Kunstforum Bd. 103, Köln 1989). Oie so simulierte Authentizität und Schnelligkeit macht mich llauben, ein adäquates, unmittelbares Bild des lachverhaltes erhalten Zu haben. Ich bin zu Unun:3rbrochenem Hinhören gezwungen.

Als Vorgriff: "Du kleiner Kasten ... Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein" (Berthold Brecht).

Ein Sucht informiert zu sein, oder doch eher Pseudo-Informiertheit, weil adäquates Handeln meist unmöglich ist.

Der RADIOEMPFÄNGER empfängt elektromagnetische Wellen mit einer Antenne. Das HF-Signal wird demoduliert, das daraus gewonnene niederfrequente Nutzsignal an den Lautsprecher geleitet. Ein Radioempfänger kann auf verschiedenen Frequenzbändern empfangen. Soweit der Techniker.

Sobald ich an meinem Radio einen Sender eingestellt habe, wird die Möglichkeit des Senders zu meiner Wirklichkeit. Ähnlich einem Ouantenexperiment blende ich mich in eine Wirklichkeit ein, aus der Latenz wird Manifestation.

Weniger emphatisch betrachtet, bricht die Suggestion der Wahlmöglichkeit zusammen. Die Türen, die ich zur Welt öffne, führen alle ins selbe Zimmer. Mag der Blickwinkel auch verschieden sein, die Wirklichkeit ist die der Hausherren, die Sendefrequenzen vergeben und - Simulation ist teuer - Radio finanzieren. Will Radiokunst diesen Zustand aufbrechen, muß sie subversiv sein.
Doppeldeutig gesagt: "Der erfolgreiche Künstler ist der, der die Medien zu manipulieren versteht..." (Jon Rose: Radio Violins - Eine kurze Improvisation. In: Im Netz der Systeme, Kunstforum Bd.103, Köln 1989). Leider glaube ich, daß Rose irrt, wenn er meint: "Der Großteil des Radios arbeitet noch nach der Vorstellung, daß der Großteil der WeItbevölkerung tatsächlich glaubt, was man ihm erzählt." (ebd.)

Das MAGNETOFON, auch TONBANDGERÄT, ist ein wiederbeschreibbares Speichermedium. Die Zeitfunktion des Signals wird auf einen magnetisierbaren Streifen als Ortsfunktion abgebildet. Soweit der Techniker.
Ein bespieltes Tonband liegt vor mir wie ein beschriebenes Blatt Papier. Wie Druckerschwärze durch mich, mein Lesen, zu Buchstaben, zu Text wird, so kann sein Inhalt, niedergeschrieben als räumlich verteilte Magnetisierung, durch den Apparat zu Hörbarem werden.
Wie das geschriebene Wort die Flüchtigkeit des gesprochenen aufhebt, so wird das Hörbare durch das Tonband reproduzierbar, der Zeit entrissen. Wie ich das Blatt Papier, diesen potentiellen Träger von Botschaft, zur Hand nehmen, zuschneiden und wieder zusammenkleben, also durch das "Komputieren" (Vi.Iem Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1989) der Schnipsel neuen Inhalt erzeugen kann, so ist auch das Objekt Tonband manipulierbar.

Das Tonband durchbricht die lineare Zeit, löst die zeitliche Integrität der Welt auf. Die Reproduktion durch das Tonband kann von der Wirklichkeit ununterscheidbar sein, sie simuliert Wirklichkeit.

Durch Mikrophon, Lautsprecher und Tonbandgerät wird ein Sachverhaltseinem Kontextentzogen, kleinste Raum- und Zeitstücke zerlegt. Er wird, wie John Gage sagt, zum "irrationalen Ton" (Richard KosteIanetz: John Gage im Gespräch. Köln 1989), wohl kaum aber zu einem adäquaten Bild der Welt. Radiokunst darf, will sie "epistemologisch adäquate Fiktion" und nicht "simple Phantasie" (Brian R. Smith: Post-Gomputer-Kunst: Vorwärts zur Revolutionl In: Im Netz der Systeme, Kunstforum Bd.103, Köln 1989) sein, den Simulationscharakter der medialen Wirklichkeit nicht negieren. Ihn bewußt zu machen, kann durch wissenschaftliche Analyse allein nicht erreicht werden. Erst das schichtweise Freilegen der großteils unbewußten Invarianten meiner Wahrnehmung, der vielfältigen Assoziationsfelder, die meine Wirklichkeitskonstruktion bestimmen, kann mir kritische Distanz zum Medium verschaffen, die "Entzifferung der technischen Bilder" (Flusser 1989) ermöglichen.


ROBERT R. HÖLDRICH,
geboren 1962 in Linz, Studium der Elektrotechnik an der TU Graz sowie der Komposition und Musiktheorie bei A. Dobrowolski, H. M. Preß I und Younghi Pagh-Paan; seit Herbst 1989 Assistent und Lehrbeauftragter am Institut für Elektronische Musik in Graz. Werke für Kammermusik, Chor, Orchester, elektronische Musik, Theatermusik.