BILDVERLUST

Unsichtbares Radio

1930 schuf der Filmemacher Walter Ruttmann ein Porträt Berlins an einem typischen Wochenende. Dies mag heute vielleicht nicht allzu aufregend klingen, doch stellte die aus urbanen Geräuschen, Minisequenzen von Musik und Sprachfetzen montierte Collage damals eine avantgardistisch-radikale Innovation dar, war die Stadtlandschaft doch rein akustisch erfahrbar und zur Gänze aus O-Ton-Aufnahmen komponiert. Mit "Weekend" leistete Ruttmann Pionierarbeit in der frühen Ära des Rundfunks; diese legendäre Radioarbeit war denn auch prägend für ganze Genres, zum Beispiel für den sogenannten Hörfilm, das (experimentelle) Hörspiel und die Radiokunst. Man könnte "Weekend" ebenso als frühes Beispiel eines künstlerisch gestalteten urbanen Soundscapes betrachten.

Die Weglassung von Bildern – die akustischen Eindrücke städtischen Lebens zum Wochenausklang wurden auf die Tonspur des Films gebannt – war ein bewusst gesetzter Kunstgriff und zielte auf die Imaginationskraft ab. Beim Hören des Stücks aus dem Radioapparat konnten Bilder und sonstige Assoziationen dazu ganz individuell vorgestellt, gefühlt, gedacht werden – wo auch immer man sich befand. Ist doch das Radio per se ein bildloses Medium. Oder war es, sollte man heutzutage wohl sagen. Mit dem digitalen Radio, sowie mit dem Internet haben auch hier Bilder und Text Einzug gehalten.
Kunstradio erweiterte den Radioraum bereits Mitte der 1990er Jahre ins World Wide Web – und bezeichnete Kunstradio Online auch als "Radio zum Anschauen". Nicht nur das im Internet verfügbare Programm-Archiv liefert neben Soundfiles und textbasierten Informationen Visuelles zu den einzelnen Radioarbeiten und Projekten, auch können Live-Sendungen und Web-Specials mittels Webcam (beinahe) in Echtzeit mitverfolgt werden.

Aber zurück zu dem Verzicht auf das Bild, und zum Raum, zur architektonischen Gestaltung von Raum und dessen ganz eigenen Klängen, zum urbanen Sound. 2005 hat der in Wien lebende Architekt und Musiker Ulrich Troyer den rein akustischen Aspekt räumlicher Wahrnehmung, genauer von Stadtraum und Architektur, einer künstlerischen Untersuchung unterzogen. In seiner in Kooperation mit Ö1 Kunstradio realisierten radiophonen Komposition "Sehen mit Ohren" entdeckt man den städtischen Raum Wiens hörenderweise, quasi durch die Ohren der ProtagonistInnen. Bezeichnenderweise handelt es sich hierbei um sechs blinde Personen, die von ihrem Alltag in einer bilddominierten Gesellschaft und ihre anders sensibilisierte Wahrnehmung ihrer Umgebung erzählen. Da, wo keine Bilder sinnlich / sichtlich wahrgenommen werden können, entstehen wie von selbst Assoziationsbilder – im Kopf. Bekanntes wird neu erlebt.

Hier ein Hinweis auf zwei weitere Projekte, die sich dem Thema Blinde und / im Radio widmen und vom Künstler Wolfgang Temmel im Rahmen von sinnlos initiiert wurden: "Talking Crosswalks" sollte unsere Ohren für die minimalistischen "Symphonien" von Blindenampeln, die von Land zu Land völlig unterschiedlich klingen können, sensibilisieren. Dazu wurden KünstlerInnen rund um den Erdball eingeladen, diese aufzunehmen, zu sampeln oder einfach in ihrer Originalität zu belassen. Im Verlauf eines Jahres strahlte Kunstradio die insgesamt 34 Ampelsymphonien zu Beginn der Sendung aus. "blind tv" wurde als Radio-Workshop für Blinde im Jahr 2003 begonnen, an dem sich u.a. KünstlerInnen verschiedener Sparten beteiligten, und sollte Blinden, die (nicht nur) im Medium Radio unterrepräsentiert sind, eine Stimme verschaffen. Erfreulicherweise ist "blind tv" immer noch on air und zwar beim freien Radio in Graz, Radio Helsinki. Mehr Infos zu diesen Projekten ist unter www.sinnlos.at zu finden.

Troyer hat die Erzählstränge bzw. -schnipsel zusammen mit in Fünfkanaltechnik aufgenommenen, teilweise verfremdeten und überlagerten Hörbildern von Wiener Innen- wie Aussenräumen montiert; die resultierende urbane Komposition oder Hörfilm ist – mit der entsprechenden Technik, d.h. einem 5.1-fähigen Empfangsgerät – akustisch räumlich wahrnehmbar. Zwar ist die Mehrkanaltechnik keine neue Erfindung, deren Verwendung keine technische Revolution, kommerziell wird sie schon seit längerem etwa in der Filmbranche mit dem Schlagwort Dolby Surround genutzt (wieder eine Verbindung dieser beiden Medien), doch ist die Produktion und das Senden von Radioarbeiten in 5.1-Technik immer noch recht neu und besonders für KünstlerInnen ein interessantes Experimentierfeld. Stringent in der künstlerischen Umsetzung von Inhalt und Form ist die Arbeit allemal, unterstreicht das räumliche Hörerlebnis die erzählte, erfühlte Architektur.

Wie kommt der Film ins Radio?
Das Medium Radio mit all seinen Vor- und Nachteilen war immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzung von Filmemachern und Filmerinnen. Aber auch RadiokünstlerInnen setzen sich mit Film und dessen akustischer Komponente, dem Soundtrack, auseinander. Dokumentar- oder Spielfilm, Fernsehfeature oder Found Footage können als Arbeitsmaterial dienen ebenso wie selbst Gefilmtes. Die Fotografin und Filmerin Lisl Ponger sowie der Filmemacher Fridolin Schönwiese repräsentieren hierbei zwei unterschiedliche, ja fast diametral entgegen gesetzte Herangehensweisen. Während Schönwiese für sein Stück "optical sounds" mit vorgefundenem Filmmaterial arbeitete und dieses, der Bilder entledigt, auf seine akustische Information hin untersuchte – hunderte Ausgaben der "Austria Wochenschau", die ab 1949 in den österreichischen Kinos gezeigt wurden, wurden akustisch seziert, erweiterte Ponger ihr filmisch-fotografisches Porträt eines "Fremden Wiens" in die Parallel-Welt des Klangs, der Geräusche, des Lärms und der leisen, melodischen Töne und schuf mit der Radioarbeit "A Tourist in the Soundscape" quasi eine Tonspur zum Film ohne Film. Über die besondere Qualität dieses neu entdeckten Genres äusserte sich Ponger: "Meine erste Radioarbeit 'A Tourist in the Soundscape' ist, glaube ich, auch ein Film – es ist ein Hörfilm. Töne können viel unmittelbarer als Bilder Bilder herstellen und zwar Bilder im Kopf des Zuhörers, die viel intensiver sind als Filmbilder, weil es die eigenen sind."

In einem selektiven Verfahren und durch sein akribisches Freilegen der Tonspur lenkt Fridolin Schönwiese die Aufmerksamkeit auf Silbenbetonungen, Sprachmelodie, Wortwahl, Originaltöne und ungefilterte Hintergrundatmos, "verräterische Fremdkörper, die mehr über die Geisteshaltung, einen gesellschaftlichen Zustand, eine politische Absicht auszusagen vermögen, als die reflektive Abhandlung eines Themas", so der Künstler. Die Reduktion auf den Sound ist also ein Gewinn.

Mit der Verknüpfung von Film und Radio scheint es sich weniger um einen Bildverlust zu handeln, denn um eine Verlagerung der visuellen Information: eine Filmspur, oder vielmehr die immaterielle Projektion (filmischer) Bilder, schreibt sich in den Schaltkreisen der rezipierenden, akustisch wahrnehmenden Gehirne individuell ein.

Links:
Infos zu allen erwähnten Kunstradio-Projekten unter http://kunstradio.at
Infos zu Talking Crosswalks und blind tv: www.sinnlos.at