PARADOXE RÄUME - MEDIALE EFFEKTE

Reinhard Braun

Elektronische Räume als öffentliche Räume?

"Es gibt gleichfalls - und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation - wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermassen Orte ausserhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können."1

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Naturgeräusche von Wind, Wasser und Grillen, Geräusche von Verkehrsmitteln wie Eisenbahn und Flugzeuge, und Ausschnitte aus historischen Aufnahmen politischer Reden in verschiedenen Sprachen sowie einzelne Klaviertöne: diese ganz unterschiedlichen Kontexten und akustischen Sphären entstammenden Materialien werden zu Bausteinen einer (wiederum akustischen) "geometrischen" Form - der Pyramidenform als formale Beschreibung einer klanglichen Struktur, die als solche selbstverständlich nicht sichtbar ist. Je vier Tonelemente bilden die Grundfläche einer solchen "Pyramide", werden sukzessive kombiniert, ineinander übergeführt, vermischen sich und streben der Spitze der "Pyramide" zu: der Stille. Die fünfte Pyramide besteht aus den Elementen der vier vorhergehenden. "Im geometrischen Punkt der Spitze sind alle Punkte enthalten und stehen in Beziehung zueinander. An der Spitze wird die Stille erreicht, der Übergang, an dem das Kunstwerk im Kopf des Hörers sein müsste, der Punkt, an dem es aus dem Ereignishaften übergegangen ist in die Erinnerung des Hörers. Erst dann existiert das Kunstwerk, die Pyramide, die verlassen worden ist (...)".2 Das Werk ist nur mehr in seiner und als seine Abwesenheit zu denken. Und weiter Gottfried Bechtold: "Als Bildhauer kann ich die Dimensionen des Sichtbaren abschneiden und die Dimension des Hörbaren einführen, wobei meine Arbeiten immer sehr räumlich sind. Es sind Tonskulpturen."3
Was sich hier kryptisch abzeichnet und in seiner Form einer "Kryptologie" unterschiedlichen ästhetischen Materials entspricht, ist schlicht eine Radio-Arbeit. Die Art und Weise, wie von dieser Arbeit die Rede ist, deutet aber auf eine eminente Verschiebung nicht nur dessen hin, was als Radio-Sendung bezeichnet werden kann, sondern auch und vor allem auf eine Verschiebung der Vorstellung und des Begriffs vom Radio selbst: Produkt eines strategischen Verlangesns nach Entkörperung der Stimme, die aus dem Sprechen und schliesslich aus jedem Frequenzgemisch ein Partialobjekt der Technik werden liess; ein elektro-technisches System, das von einer Verlängerung des Subjekts durch eine Ausstrahlung seiner Stimme seinen Ausgang nahm und schliesslich diese Rückkoppellung mit dem Subjekt aufgegeben hat, d. h. sich von einem Konzept der Prothese zu einem Mediensystem entwickelt hat, das fundamental darauf gegründet ist, die subjektorientierten und -zentrierten Formen der Wahrnehmung zu unter- bzw. überschreiten. Radio ist damit in keiner Weise mehr als Prothese zu denken, sondern als Projekt und Projektion, die schliesslich ganz andere "Gegenstände" und Orte für die menschliche Wahrnehmung entwirft - Gegenstände, nicht mehr Stimme und Sprechen, die aufgrund dieser anderen (d. h. medialen) Konstruktion und strukturellen Bedingung einen paradoxen und ambivalenten Status gegenüber dem Subjekt einnehmen, weil der Ort, von dem aus sie sich ereignen, jenseits des Subjekts liegt und von diesem nicht mehr eingenommen werden kann. Der Status medialer Produkte und Projektionen erschliesst sich dem Subjekt nurmehr insofern, als es Ziel dieser Projektionen ist, die sich ihm nur teilweise erschliessen. Aufgrund dieser grundlegenden Trennung von System und Subjekt, der die Trennung von Ereignis und Wahrnehmung folgt, erscheint nicht nur ein vom Radio sondern prinzipiell jedes von Mediensystemen indizierte und produzierte Ereignis als Effekt eines Anderen, das für das Subjekt unsichtbar und unzugänglich bleibt - Effekt einer fundamentalen Abwesenheit also, die als "elektronischer Raum" vorläufig bezeichnet wird. Was als Radio-Arbeit vernommen wird und weiter keine Fragen aufzuwerfen scheint, stellt sich demnach bereits als potentieller "Absprung in den Nichtraum" dar4, in die "Abgründe des neuen Mediums, seine unheimliche Herkunft aus dem Nichts, seine ortungslose Allgegenwart und Universalität"5.

Was diese Arbeit mit dem Titel "Fünf kleine Pyramiden" von Gottfried Bechtold dementsprechend exemplarisch kennzeichnet, sind grundsätzliche Dimensionen sowohl des Mediums, in dem sie sich ereignet als auch möglicher (künstlerischen) Konzepte, die es überhaupt erst erlauben, in diversen medialen Systemen (hier: im Radio) zu operieren, Systeme, die fundamental dadurch gekennzeichnet sind, dass sie selbst nicht wahrnehmbar sind, dass der Ort und der Raum ihrer Wahrnehmung niemals mit dem Ziel ihrer Projektionen zusammenfällt, dass also auch das Radio niemals nur dieser eine besondere Ort und Raum ist, an dem sich gerade ereignet, was die Systeme produzieren, im besonderen Fall akustische Signale bzw. ihre Strukturierung zu einer Radioarbeit. Radio ist immer (auch) anderswo. "Der Ort des Radios ist (...) die Achse, die den Ort und den Raum des Radios teilt und zerschneidet."6 Und: er fällt nicht mit den Erscheinungen, die er produziert, zusammen. Medien- Systeme implizieren damit eine eminente Überschreitung (des hier und jetzt) und dissimulieren damit eine Lokalisierung dessen, was denn eigentlich stattfindet und vor allem wo. Eine Arbeit wie jene von Gottfried Bechtold - und mit ihr eine Reihe von Projekten nicht nur für das Radio - stellt also indem sie realisiert wird und sich ereignet zugleich die Frage nach ihrem eigentlichen Ort, den sie als (ästhetisches) Ereignis besetzt und produziert.7
Diese Frage nach dem Raum ist eine paradoxe, weil es sich doch um eine evidente Präsenz handelt, die das Radio erzeugt (das Hören und Erleben einer Radio-Arbeit), gleichzeitig aber der strukturelle Raum, der dieser Präsenz sozusagen vorausgeht, dem sie eingeschrieben bleibt, sich völlig entzieht (das Radio selbst): Radio erscheint nicht in seinen Erscheinungen, so möchte man sagen, die Präsenz erleidet sozusagen einen permanenten Mangel - doch dieses Nicht-Erscheinen trägt zur Kennzeichnung dessen bei, was letztlich gehört und erlebt wird, und was sich aufgrund dieser Fundierung auf ein Abwesendes erheblich von Modellen und Konstellationen etwa der bildenden Kunst abhebt. Mediale bzw. medial transferierte oder generierte Ereignisse sind keine Objekte, haben keinen "Widerstand", sondern einen (technischen) Kontext, der in jedem Fall der Rahmen dessen bleibt, was da transferiert oder generiert wird. Der "elektronischer Raum" als Metapher für diese Konfiguration ist also zuallererst durch seine Abwesenheit, die eine Anwesenheit produziert, gekennzeichnet. "So verweist auch jede Gegenwart technischer Konfiguration auf eine apresente techné, die uneinholbar und vorgängig bleibt, so dass von ihr aus erst das problemtatische Feld differentieller Technikverhöltnisse spurengesichert werden kann."8

Dieser Entortung nicht nur des medientechnischen Produkts, sondern schliesslich auch des Subjekts, entspricht weitestgehend die Ideologie der medialen Expansion der letzten hundert Jahre. Diese richtete sich sozusagen primär auf bzw. gegen den Ort, gegen die definitive und unauflösliche Verkoppellung von Ereignis und Schauplatz, von Handlung und Raum. "... nämlich die Technologie zu sehen als Sprache des Abwesenden, als Fortsetzung der Schrift. (...) Die Symbolbildung, die Abstraktion zur Symbolbildung, die Überwindung des Territoriums ist der Ursprung von Schrift und Technologie."9 Die Mobilisierung der Töne und Bilder entspricht somit einer Mobilisierung der Erscheinungen und Ereignisse jenseits der Schauplätze (und Kontexte). Medientechnisch gesehen unterliegt der Ort dadurch einer Operationalisierung durch den Zugriff auf seine grundsätzliche Konstitution: Handlungsfeld zu sein, ein genuiner und in der Zeit einmaliger Schauplatz von Ereignissen (und damit auch von symbolischen Strukturen, die in der Sprache solcher Ereignisse vollzogen werden, oder besser: sich vollziehen). Die ansprechbaren Orte, die Taten und Handlungen bildeten eine Topografie, innerhalb der Geschichte erst denkbar werden konnte als Rekonstruktion solcher identifizierbaren Handlungen und Handlungsabläufe. Dieser Kontinuierung der Orte und Räume als Geschichtsraum entgegen vollzogen sich allerdings die medientechnischen Entwicklungen als prinzipielle Diskontinuierung auch der Koordinaten des Geschichtlichen. Bereits Walter Benjamin kennzeichnete die ersten Erfahrungen mit beschleunigten Bildern und ihrer Rezeption mit dem Begriff der Zerstreuung.
Die Metapher vom "elektronischen Raum" beschreibt und vervollständigt also eine abstrakte und unzugängliche Ordnung (die gerade nicht die geografische Ausdehnung diverser Reichweiten der Übertragung meint) und skizziert die Konsequenzen komplexer Verknüpfungen von Techniken, d. h. ein Produkt von Theorien und Abstraktionen10, obwohl sie gleichzeitig eine Sphäre, ein Terrain oder gar eine Bühne subjektorientierter Praxis mitformuliert: die Rezeption einer Radio-Arbeit, das Interagieren im Rahmen von Live-Schaltungen11 usw. Was als unmittelbare Erfahrung eines Faktischen auftritt, muss dennoch als Produktion, als Effekt jenes medialen Kontextes auf Distanz gestellt werden, um die (nichträumlichen) Distanzen, die Mediensysteme errichten, als Differenzen noch wahrnehmen zu können, d. h. die mediale Erscheinung nicht für die Sache selbst zu halten. Mediensysteme operieren prinzipiell mit der Dichotomie von anwesend/abwesend - "(...) die abwesende Wirklichkeit wird partiell und in modifizierter, simulativer Form anwesend"12 - und mit einer Verschiebung der "aisthesis"13: "Fünf kleine Pyramiden" und ein Live-Konzert der "Einstürzenden Neubauten" sind nicht nur formal unterschiedliche Ereignisse; die Begriffe Medienästhetik und -theorie hat nur dann einen Sinn, wenn sie einen spezifisch medial generierten "Gegenstand" hat bzw. ausmachen kann. Der Begriff "elektronischer Raum" kennzeichnet ein Syndrom von Aspekten, die im Folgenden gesammelt werden, nicht, um eine Theorie zu entwickeln, sondern jenen Gegenstand ein wenig zu konturieren.

Die paradoxe Form der Medien-Präsenz wird in weiterem Sinn dadurch beschrieben, was Friedrich Kittler als Entkoppellung von Interaktion und Kommunikation (durch die Schriftlichkeit) und schliesslich die Entkoppellung von Kommunikation und Information durch technische Medien nennt.14 Was sich ereignet, was sich mitteilt, mitgeteilt wird, sucht zwar einen Adressaten, richtet sich aber nicht mehr ausschliesslich an ein Subjekt. Produktion, Distribution und Rezeption sind nicht nur operationalisierte Elemente einer fragmentierten Kette von Ereignissen, Handlungen und Erfahrungen, die Ausdifferenzierung auf der Grundlage von technischen Systemen transponiert auch die Instanz, die diese erzeugt und kontrolliert in eine vom Subjekt nicht nur getrennte, sondern von diesem nicht mehr zu erreichende Sphäre: das technologische Jenseits, der "elektronische Raum". Dort werden jene Sequenzen erst möglich und realisiert, die keinem Sinn, keiner Ästhetik folgen, wie sie dem Subjekt entsprechen, sondern einer Logik der technischen Systeme selbst. Durch den Abschluss dieser technisch fundierten Ausdifferenzierung (und Entäusserung) und ihre radikale Andersheit wird Kommunikation, die Wahrnehmung und Deutung von Ereignissen und Handlungen, ja Handeln selbst zu einer Erscheinung an der Oberfläche der Medien; der elektronische Raum ist vor allem ein Syndrom von Effekten, die Mediensysteme verursachen. "Fünf kleine Pyramiden" bildet diese Konstellation sozusagen ab, indem sie einen medienspezifischen akustischen Raum konstruiert und vor allem, indem sie als Meta-Skulptur auftritt, als vorübergehende Modulation jenes systemischen "Raumes", der das Radio ist (und der auf das Bewusstsein des Hörers zielt).15 Die Arbeit zeichnet die fundamentale Abwesenheit nach, weil sie immer auch den abwesenden Teil der Skulptur, der woanders wahrgenommen wird (oder nicht) und den Kontext des je spezifischen Wahrnehmens bildet, zu einem Bestandteil der Arbeit selbst erklärt. (Die Utopie einer derartigen Produktion ist ein tönendes Gebiet voll von Radiogeräten, die auf volle Laustärke gestellt sind und jenen System-Raum an seiner Oberfläche hörbar machen.) Was als Radio-Arbeit wahrgenommen wird, ist somit eine lokale Aktualisierung, die zugleich jenen "Absprung in den Nicht-Raum"16 markiert. "Fünf kleine Pyramiden" handelt demnach nicht davon, etwas von einem Ort zum anderen zu übertragen (es geht um keine "Live-Sendung"); was aber als das Abwesende des Stücks und zugleich als Komplement zur je unmittelbaren Rezeption, als Vervollständigung der gesamten Arbeit bezeichnet werden kann, ist: das Radio selbst (bzw. seine "Abbildung" ). Das Radio ist der Ort, in dem sich die Arbeit ereignet, und das Radio ist darin immer gegenwärtig und abwesend zugleich: durch die Stille, die den Fluchtpunkt der Arbeit darstellt, wird diese Abwesenheit des Mediums "hörbar".

Mediale Gegenwärtigkeit und "Erscheinung" sind damit durch paradoxe (räumliche und zeitliche) Multiplizierungen bei gleichzeitiger je konkreter Präsenz und Gegenwärtigkeit gekennzeichnet, durch einen multiplen und latenten Zugriff der Medien auf den Raum. Jeder Ort ist potentiell ein Ort, an dem sich Medien-Präsenz ereignen kann, womit kein Ort mehr eine Exklusivität besitzt: jede Rezeption ist immer dezentral und fragmentarisch. Ereignisse (und damit Fakten) sind latente Eigenschaften jedes Ortes geworden, das Ereignis Kunst etwa ist nur eine mögliche Aktualisierung dieser Latenz - insofern ist auch die Exklusivität des Ereignisses Kunst beendet. Mit dem Verlust des klassischen Ortes als räumliche Schnittstelle und damit als einmaliger und ausgezeichneter Ort innerhalb eines Territoriums geht der Verlust einer Unmittelbarkeit im Verhältnis zum uns umgebenden Raum einher: wir schalten Ereignisse, Informationen usw. beliebig diesem unserem Raum zu oder isolieren ihn (temporär) von jeder medialen Invasion - potentiell und latent jedoch befinden wir und permanent im Feld der Medien und der durch sie produzierten Effekte; sie sind gegenwärtig abwesend. Der Eingriff des Subjekts erscheint dabei als Aktualisierung dieser latenten Gegenwärtigkeit und damit als ein Akzidens der Medien. Darüberhinaus wird bereits am Radio ablesbar, inwiefern Medien "die operative Fiktion eines gemeinsamen Realität" produzieren17: auf der Grundlage einer radikalen Entortung und Potentialität entsteht jene vollständige Verfügbarkeit und Aktualisierungsmöglichkeit, die uns die Welt im Schatten uns ständig umgebender Medienereignisse erleben lässt.18

Der "elektronische Raum" bildet somit quasi den Hintergrund19, vor dem die Ereignisse in Szene gesetzt werden. Wenn Gottfried Bechtold von einer Ton-Skulptur spricht, dann im Sinn einer Analogie: wie sich eine materielle Skulptur als Intervention in ein Material und/oder als dessen Aktualisierung begreifen lässt, ist auch seine Arbeit als Intervention zu lesen, als vorübergehender Eingriff in den Radio-Raum (den er präzise als dasjenige kennzeichnet, das sich letztlich im Bewusstsein des Hörers erfüllt, d. h. auf das Innere des Subjekts zielt und sich dort aufzeichnet). "[Radio] meint also nicht nur die Zerstreutheit der Elemente, sondern auch ihre Formbarkeit."20 Die Arbeit skizziert durch ihren ephemeren Charakter und durch die Integrierung ihrer Negation (die Stille) jene Ausblendung eines Mediums als Vorraussetzung für mediale Präsenz (d. h. die Identifizierung eines Gegenwärtigen als symbolische Präsenz eines Abwesenden, in die sich letztlich die Abwesenheit des Subjekts einreiht), und leistet damit eine Kennzeichnung der radikalen Differenz und Distanz, die Mediensysteme nicht nur gegenüber den Subjekten konstruieren, sondern letztlich auch zwischen ihnen und damit innerhalb des Sozialen; Aktualisierung, Intervention, d. h. vorübergehende Besetzung einer medialen Sphäre, Fiktionalisierung des Werkes und des Autors (der ebenso abwesend bleibt und nicht mehr über die Aktualisierungen der Arbeit bestimmen kann) und dergleichen lassen sich als weitere Koordinatenpunkte einer künstlerischen Strategie skizzieren, die Mediensysteme nicht als ästhetische Werkzeuge versteht. Insofern muss der Begriff "elektronischer Raum" primär in Termini der Systeme formuliert werden, nicht in solchen des Subjekts - diesem bleibt es vorbehalten, die Oberflächenphänomene der Systeme zu lesen, zu manipulieren, zu modifizieren, zu erleben und zu erleiden.

Der Phänomene der Abwesenheit, der Aktualisierung und Konkretion des abwesenden Mediensystems wurden bereits von den Futuristen, insbesondere von Filippo Marinetti angesprochen, u. z. in dem gemeinsam mit Pino Masnata verfassten Manifest "La Radia" (1933)21, in dem bereits durch den Titel die Vorstellung transparent wird, dass Radio nicht aus den Studios oder dem Tonmaterial selbst und nicht einmal aus den Empfangsgeräten besteht, sondern in den dazwischen sich verbreitenden elektromagnetischen Wellen ("radia"). Der Radio-Raum ist ein Wellenraum, in den man sich einschalten kann (Radiogerät). Marinetti hat in den 30er Jahren einige Radio-Stücke konzipiert und auch durchgeführt; "La Construzione di Silenzio" (Die Konstruktion des Schweigens [sic!]) etwa, ein Stück, das für die vorliegende Archäologie eines medialen Raumbegriffs von Bedeutung ist. Das Stück besteht aus einer Verkettung von verschiedenen Geräusch-Sequenzen (Spülen, Geraschel, Schweigen, Trompetenton etc.), die einerseits den Materialcharakter der Klanginformationen unterstreicht, andererseits dieses Material zu einem spezifischen "Raum" aus Klängen zusammenfügt: "Wände links (ein Trommelwirbel) und rechts (u. a. Autokreischen), einen Boden (Wasserleitung) und schliesslich eine Terassendecke aus Vogelrufen."22 Wenngleich darin die sozusagen literarische Qualität akustischer "Environments" evident ist, bleibt dennoch die Zusammenführung dieses "literarischen" Raumes mit dem neuen Medium Radio bezeichnend: durch den Charakter der Stücke wurde eine Bezeichnung der Möglichkeiten des Radios versucht, d. h. die Vorstellung, dass es sich dabei um die Konstruktion von spezifischen Erfahrungsräumen handelt, die auf dem Prinzip der Gleichzeitigkeit und Multiplikation beruhen, d. h. technisch fundierte kollektive Dimensionen haben. In diesen durch das Radio verbreiteten Klangräumen nimmt die Stille, das Schweigen des Radios eine zentrale Position ein: die Abwesenheit von radiophonem Klang blendet das Radio aus und lenkt das Augenmerk auf die jeweiligen Umgebungsgeräusche im Umfeld des Hörers. Das vom Radio erzeugte klangliche Environment wird potentiell mit dem vor Ort existierenden Klangenvironment verbunden und in den selben "Raum" gestellt. Die Stille fügt einen Platz für den Hörer und seine Umgebung ein und versucht dadurch, die radikale Grenze zwischen Medium und Subjekt einzuziehen: der Hörer erhält Präsenz im Stück - es entsteht eine jeweils unterschiedliche "akustische Skulptur", die nur über das Radio realisierbar ist und das denjenigen Hintergrund produziert, vor dem sie entfaltet wird - eine Meta-Skulptur gewissermassen. "(...) das Werk wuchert an vielen verschiedenen Orten, zu verschiedenen und gleichen Zeiten ... "23. Was entsteht, ist eine Verschaltung und Produktion von Ereignis-, Vorstellungs- und Bedeutungsräumen: Klänge, Bilder, Informationen usw. überziehen die geografische Oberfläche mit einer zweiten (medialen) Topografie: "La Radia" - nicht die Töne und Bilder selbst sind die kennzeichnenden Elemente des "elektronischen Raumes", sondern gerade diese Topografie als sekundäre Strukturierung der Welt.

Der Raum der Kunst ist jetzt nicht mehr einer des Objekts, seiner Erscheinung und Plazierung, ein Raum des Subjekts, seiner Wahrnehmung und Handlung, d. h. ein Raum, der die Kontinuität zwischen der Sphäre des Subjekts und jener des Objekts fortführt, eine Kontinuität zwischen Ursache und Wirkung, Produktion und Rezeption herstellt und garantiert, ein Raum, in dem sich sowohl Ereignisse/Objekte und deren Bedeutung und Sinn ereignen bzw. aufeinander verweisen. In dieses Kontinuum der Bedeutungen und des Sinns blieb das Subjekt integriert (ein Schauplatz seiner Interventionen, d. h. ein Ausdruck seiner Macht, bildet es doch letztlich den Horizont und die Perspektive all dieser Produkte). Der klassische Raum ist einer, in dem sich die Bedeutung erfüllt, in dem der Sinn signifiziert und zugleich rezipiert wird: ästhetische wie semantische Kontinuität garantieren dafür, dass der Raum ein "Etui" für das Subjekt, die Objekte und der Bedeutungen beider bleibt. Dagegen zeichnet sich im Projekt von Gottfried Bechtold eine Entkoppellung von "Gegenstand", Ereignis und Wahrnehmung ab, ein Übergang vom kontinuierlichen und erfüllten Raum, vom einheitlichen ästhetischen Feld zu partiellen und diskontunuierlichen "Effekten", zu Sinn- und ästhetischen Fragmenten - jede Gegenwärtigkeit bleibt Fragment (innerhalb dessen, was das Radio als Rezeption potentiell entwirft). Die "Gegenstände" selbst existieren auf einer völlig anderen Ebene wie das Subjekt - es hat letztlich keinen Zugriff auf die Sphäre jener "Gegenstände", denen es sich ausgesetzt sieht; es besteht keine Kontinuität zwischen dem Ort und dem Raum der (künstlerischen) Arbeit und dem Ort und dem Raum des Subjekts, sie besitzen keine einheitlichen Koordinaten mehr; eine prinzipielle Distanz ist installiert. "Das Ereignis ist weder an seinen besonderen Raum noch an seine besondere Zeit gebunden, da es an jeder Stelle widergespiegelt und beliebig oft wiederholt werden kann."24 Damit werden Medienereignisse in einem spezifischen Sinn zu Objekten, die in einem spezifischen "Raum" zirkulieren und sich ereignen - durch ihre Operationalisierung wird schliesslich der Raum selbst operabel. Insofern zeichnet auch das Radio-Projekt von Gottfried Bechtold die grundlegende operative Ausdifferenzierung der Kultur durch technische Medien nach (vor allem auch den Übergang vom Begriff der "Prothese" zu jenem des Systems). Der Begriff "Effekt" tritt breits bei Walter Benjamin als Kennzeichnung der Tatsache auf, dass es sich bei den "Gegenständen" der Rezeption (die er als "Chock" beschreibt) nicht um Produkte im engeren Sinn handelt, sondern um Verlängerungen der Strukturen der Medien selbt, um Symptome, in denen sich die Medien kurzzeitig und flüchtig "abbilden".25 Der Begriff des "Effektes" zeigt darüberhinaus die Verschiebung auch einer möglichen Sprache an: er kennzeichnet provisorisch und metaphorisch jene medialen Erscheinungen, deren Status nicht eindeutig und vollständig ist, die nicht zu lokalisieren und umfassend zu beschreiben sind, die jedoch etwas erzeugen, das wahrgenommen wird, das Effektivität und vor allem eine Präsenz besitzt, wenn diese auch nicht stabil ist. Insofern zeichnet sich der "elektronische Raum" als ein zentraler Effekt der Medien ab, als eine Dissimulation der vollständigen Unzugänglichkeit der Systeme selbst26, ihrer "menschenabgewandten Seite"27.

Diese - hier nur skizzierte - Situation spiegelt somit eine umfassende "Transformation des Territoriums"28, eine Neuorganisation der gesamten Topografie und ihrer immanenten Relationen. Die Telegrafie hat erstmals in der Verschaltung grosser Entfernungen eine Relativierung der Distanz eingeführt; der Funk hat diese Relativierung sozusagen von einem materiellen Träger unabhängig gemacht und die Grundlage für eine Visualisierung der Topografie geschaffen: das Radar bedeutet bereits das potentielle Ende jeden Verstecks für ein Objekt und markiert gleichzeitig den endgültigen Übergang zum Informationsbegriff - jede noch so durchschlagskräftige Waffe ist (beinahe) wertlos, wenn ihr Einsatz gleichzeitig Informationen für den Gegner produziert (d. h. wenn sie rechtzeitig entdeckt, aufgekärt, wird). Strategie richtet sich nicht mehr auf die effiziente Besetzung der Topografie, des Raumes, sondern in der Abwehr seiner radikalen Durchdringung und Entbergung, d. h. im Verbergen und der Dissimulation. "Die Grenzen von Nationalstaaten sind im Zeitalter globaler terrestrischer Reichweiten und Frequenzen, im Zeitalter orbitaler Satelliten zum Verschwinden verurteilt."29 Desgleichen gilt für den Raum; nicht, das er verschwindet, er ändert aber radikal seinen Status innerhalb informationeller Operationen, d. h. seinen Ort im System der Kultur: es steht jetzt seine Kompatibilität und Konvertierbarkeit im Rahmen von (telematischen) Techniken zur Disposition, Techniken, die sich längst auch zu eminenten Kulturtechniken entwickelt haben. Vor allem auch anhand der Warenproduktion und -distribution und all ihrer Kontexte (die noch immer das Soziale als Fokus der Gesellschaft überdecken) lässt sich diese Ersetzung der strategischen Funktion des Ortes und des Raumes durch mediale Prozesse und Systeme skizzieren: Werbung etwa, als Sprache und Suggestion in den (öffentlichen) Raum hinein, Werbung als "Bestrahlung" eines Ortes stellt nur mehr eine marginale Strategie der Werbung insgesamt dar; das Plakat als durchaus flexibel zu besetzende sprechende "Fassade" ist mithin kein zentrales "Medium" der Werbung mehr, um einen Adressaten dieses Sprechens zu erreichen - dessen Aufmerksamkeit und Begehren haben sich woanders hin verlagert, auf noch flexiblere und variablere "Oberflächen" hin: insofern sind elektronische und digitale Medien die Oberfläche der Gesellschaft geworden, sie errichten gegenwärtig jene Topografien, die die Gesellschaft und ihr Begehren strukturieren (sie bilden den Hintergrund dieses Begehrens).
Es sind also in zunehmendem Masse diese medialen Kanäle, die zu Transporteuren und Repräsentanten von kollektiven Vorstellungen und kollektivem Bewusstsein werden, zu Fäden, zu einem Gewebe, einem System, das schliesslich auch als relevante, weil effektive und affizierende Öffentlichkeit fungiert, weil "es spricht", weil "es sich ereignet", nicht das Subjekt spricht oder handelt. In diesem mediatisierten "Raum" , der in dieser Exzentrizität gegenüber dem Subjekt als Sphäre des Symbolischen erscheint30, operiert schliesslich auch eine Kunst, wie sie die Arbeit von Gottfried Bechtold markiert, versucht diese, die Mechanismen, Strategien und Effekte jenes paradoxen Raumes zu analysieren und schliesslich die besondere Form der Oberflächen, der Verschaltungen, der Effekte usw. zu kennzeichnen, die die Medien konstruieren bzw. die Konsequenzen (ästhetischer wie kulturtechnischer Art) "abzubilden", die diese medialen Effekte für die Vorstellungen von Kunst, vom Subjekt und schliesslich von Öffentlichkeit haben. Was Gottfried Bechtold als Ton-Skulptur bezeichnet, stellt deutlich eine ästhetische Strategie dar, die Verschaltung "Radio" hörbar und erlebbar zu machen.

Gottfried Bechtold besetzt und strukturiert mit dem Radio exemplarisch ein derartiges Mediensystem, in dem keine Homogenität der Zeit und keine Homologie des Sinns herrscht31; er entwickelt keine Erzählung, das Klangmaterial wird nicht narrativ und auch nicht metaphorisch eingesetzt: eine Montage und Sequenz, wie sie nur eine fortgeschrittene Schnittechnik erzeugen vermag, d. h. eine spezifisch technisch-medial fundierte akustische Sequenz erzeugt gleichzeitig eine medienspezifische (akustische) Gegenwart und bildet dadurch das zentrale Paradigma der Medien, die (ästhetische) Präsenz, quasi ab. "Die technische Implementierung von Sound und Hören setzt uns der Gegenwärtigkeit als solcher in nie gekannter Intensität aus."32 Gottfried Bechthold vertritt damit keinen traditionellen Skulpturbegriff, auch wenn er von einer Ton-Skulptur spricht; der Skulpturbegriff liefert die Metapher für die Topografie, die die Arbeit mit dem Radio eröffnet und besetzt. Und er arbeitet mit den Modi der Rezeption: der Mittelpunkt der Arbeit, die Stille, dort, wo "sich die Arbeit selbst aufhebt", ist gleichzeitig der Ort des Rezipienten, des Hörers. Das Radiostück selbst ist somit nur eine Seite der Arbeit, die andere Seite (die Rezeption) entzieht sich dem Künstler bzw. entäussert dieser jene Seite als komplementäres "Stück" des Projekts, das zu diesem Zeitpunkt bereits "verlassen" zurückliegt. Der Ort, an dem die Arbeit verlassen wird, ist aber präzise jener Ort einer Aktualisierung des medialen Raumes Radio - die strukturellen Grundlagen der Arbeit bleiben für den jeweiligen Rezipienten fiktiv; sie sind allerdings: der "Raum", den das Radio latent erschliesst und produziert, jene (abwesende) Topografie des Mediums, die jenseits aller realen Orte dennoch als Zugriff auf ihn temporär entsteht und latent vorhanden ist. Der Potentialität des Radios steht seine Aktualisierung durch die Schnittstelle, als die das Radio-Gerät fungiert, gegenüber. Jenseits von dieser Schnittstelle aber ereignet sich das Radio selbst. Auch die Arbeit von Gottfried Bechtold besteht aus dem System jenseits der Grenze, die die Schnittstelle darstellt, nicht allein aus den Bedeutungsträgern, d. h. nicht aus den Klang-Materialien. Das Radiogerät als Schnittstelle wird buchstäblich zum Schnitt durch die Welt. Auf der anderen Seite - der Seite der Radio-Skulptur - formiert sich ein Raum "zwischen den Dingen", zwischen den Klängen und ihren Bedeutungen: der Un-Ort Radio. Nicht die "Oberflächen" allein (ästhetische Präsenz) repräsentieren die Arbeit, sondern die Bedingungen für ihr Entstehen und ihre Verbreitung - ihr "Hintergrund" wird zum Thema: die Meta-Skulptur, die entsteht, indem eine Klang-"Skulptur" innerhalb des Systems Radio "zirkuliert", das in der Arbeit durch die Stille nachgebildet wird: die "Konstruktion des Schweigens" als Rekonstruktion des Radios.

Auch Friedrich Kittler unterscheidet in Anlehnung an Claude Shannons Informationstheorie kategorisch zwischen Empfang (der Apparat) und Senke der Information (der Empfänger). "So verläuft eine Trennlinie, die selber unhörbar ist, zwischen dem Gehörten und dem Gesendeten."33 Die Übertragung beginnt also erst dort, wo alle Empfangsmöglichkeiten (des Subjekts als Empfänger) aufgehört haben. Der Rekurs auf die technischen Grundlagen durch Kittler zielt darauf, den medialen Raum zu spezifizieren: er zerfällt sozusagen in die technisch/physikalische Dimension der Verbreitung elektromagnetischer Wellen, die sich dem Subjekt vollkommen entzieht (eine "abwesende Anwesenheit"), und die Rekonstruktion dieser Wellen in eine rezipierbare Botschaft für dem Empfänger. Kittler insistiert durch diese Differenzierung auf die menschenabgewandte Seite der Technik, d. h. dass ihre Funktionalität jenseits jeder Intervention des Subjekts dennoch gewährleistet ist. Verschärft formuliert lässt sich diese Autonomie der Technik dahingehend darstellen, dass das Subjekt der Überschuss der Technik ist und ihrer Abstrahierung sozusagen "aufsitzt". Der Radio-Raum muss also ständig in dieser Dichotomie zwischen Technik/Technologie und der Sphäre des Subjekts gesehen werden. Der Rezeptionsraum entsteht erst an der Stelle, an der die Technik sich selbst sozusagen für den Empfänger offenbart und sich für diesen übersetzt, gleichzeitig aber unerreichbar bleibt. Jenseits des Rezeptionsraumes aber ereignet sich der "elektronische Raum", der im Radio allerdings noch keine unmittelbaren kommunikativen oder "interaktiven" Ebenen aufweist, aber als System-Raum sehr wohl präfiguriert und vor allem institutionell abgeschlossen ist.

Explizit an systemimmanenten Strategien und Konzepten des Radios ist die Performance "Radio-Zeit" von Richard Kriesche orientiert, realisiert im Rahmen des Radio-Kunst-Symposions "With the Eyes Shut - Bilder im Kopf" zum "steirischen herbst" 1988. Mit einem Parabolspiegel wurden die Signale eines Wettersatelliten empfangen und auf einer Leinwand im verdunkelten Atelier Richard Kriesches visuell dargestellt. Zugleich steuerten diese vor allem als Rauschen wahrnehmbaren Satelliten-Signale über einen Sequencer Mozarts "Kleine Nachtmusik" an. Vor der Leinwand befand sich ein Tisch, an dessen Seite Richard Kriesche sass und im Licht einer Leselampe einen viele Seiten langen Text las. Allerdings ging dieser Text in dem immer wieder erklingenden Motiv der "Kleinen Nachtmusik" und vor allem im Rauschen der Satelliten-Signale fast völlig unter.
Richard Kriesche demonstriert in dieser Radio-Aktion exemplarisch die Situation nicht nur des Radios, sondern von Mediensystemen insgesamt: sie zeichnen sich als Teil-Systeme nur mehr vor dem Hintergrund einer allgemeinen "Systemisierung" der Information, Kommunikation und Unterhaltung ab. Dieser globale Datenhintergrund, vor dem die Welt heute abgebildet wird, erscheint in der Demonstration als das Rauschen, in dem konventionelle Kommunikationsmuster, die Musik und die Sprache, untergehen bzw. als Musik, als Sprache nurmehr aus diesem permanenten Rauschen gewonnen werden können. Dieses Rauschen als Datenhintergrund, d. h. als Hintergrund jeder Kommunikation, Intervention etc. erscheint darüberhinaus als Metapher für jene Medien-Topografie, die die Oberflächen der Welt in einer Rekonstruktion ihrer Abtastungen besetzt, überzieht, aber auch die Kultur durchzieht und neu (re-)konstruiert; das Rauschen erscheint damit als Metapher für und als Abbildung des "elektronischen Raum/es", der jetzt kein (oder nicht mehr ausschliesslich und wesentlich ein) Wellenraum ist, sondern ein Datenraum, ein Systemfeld, in dem Daten verschoben, aktualisiert, modifiziert, generiert und gelöscht werden - der elektronische Raum wird durch diese Konstellation zum kommunikativen Feld, dessen kommunikative Möglichkeiten jedoch den Modi der Datenbearbeitung aufsitzen und durch diese determiniert werden: sie geschehen prinzipiell und generell unter einem "Protected Mode"34
Dieser neu strukturierte aber ebenso ereignishaft abwesende "Raum" hat nach Kriesche auch das Subjekt erfasst, indem sich auch dieses zunehmend als Aktualisierung von Daten aus diesem Raum artikuliert. "der elektrische mensch hört nicht mehr radio - er ist selbst radio: gleichzeitig auf empfang und ausstrahlung geschaltet. als zeichen seiner existenz zeichnet er damit seine spuren auf den datenhintergrund. im zeichnen der zeichen liegt seine existenz begründet (auf video, bankomatkarte, telefon, fax, pc, etc.). gleichsam in anerkennung der elektrischen schaltkreise in seinem eigenen organismus, lädt sich der 'radioman' mit mobilen elektronischen rechenmaschinen, uren, daten- und diktiergeräten, walkman, mobiltelefon, elektronischen suchgeräten, laptop, notebook, etc. auf. batteriegestützt bildet er um sich die postmoderne aura einer postmodernen omnipräsenz. strahlend wie das waschmittel 'radion' ist sein äusseres, eingebettet in die elektronische gemeinschaft des datenhintergrundes sein inneres. er selbst ist ein lichtpunkt (pixel) im raum der oberflächen, der 'computerplanes', der vordergründe, hintergründe und imageplanes. in sie taucht er ein, um zu verschwinden und um woanders als ein anderer aufzutauchen. als lichtpunkt hat der 'radioman' in permanenz die form des fluchtpunktes angenommen."35 Richard Kriesche stellt damit auch das Radio in den Kontext einer umfassenden medienstrategischen Situation, der sich das Subjekt - und somit auch der Künstler - ausgesetzt sieht und in welchem es/er unausgesetzt operiert. Es ist der Künstler selbst, der hier zum "radioman" wird.

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Was sich im Hintergrund dieser beiden Projekte bereits abzeichnet bzw. in "Radio-Zeit" explizit wird, ist eine spezifische Positionierung künstlerischer Arbeit angesichts einer umfassenden Mediatisierung der Gesellschaft, wobei nicht mehr von Radio, Fernsehen usw. gesprochen werden kann, sondern nur mehr von einem ständig expandierenden und immer komplexer strukturierten und organisierten Mediensystem36, Konzepte, die künstlerische Arbeit nicht nur jenseits von Objekten positionieren oder die Vorstellung eines (End-) Produktes dieser Arbeit immer mehr aufgeben, sondern die Frage nach der Kunst selbst stellen. Denn wie vermag Kunst angesichts dieser Implosion von Horizonten und Perspektiven, der Etablierung eines (digitalen) Tableaus, auf dem alle Ereignisse erscheinen37, sich als Differenz zu konstituieren, sich innerhalb dieses "monotheistischen" Rahmens auszudifferenzieren, wenn letztlich alles zunehmend denselben Verschlüssellungen, Systematisierungen, Abtastungen und Abstraktionen unterworfen ist, wenn es keine kontextspezifischen Objekt- oder Handlungsbereiche gibt, sondern nur mehr Informationsketten innerhalb von Mediensystemen und ihre allerdings unterschiedlichen Rekonstruktionen an den entsprechenden Schnittstellen, d. h. wenn Kunst geradezu buchstäblich und physikalisch mit der Waren- und besonders der Geldsphäre ident wird - wenn also potentiell jede (Trans-) Aktion bereits im "elektronischen Raum" angesiedelt ist, und dadurch alle auf dem Subjekt fundierenden Kategorien obsolet werden? Und, so muss hinzugefügt werden, wenn ihre Spuren in diesem abstrakten Territorium auch noch vorsätzlich verwischt werden.38 Wenn also neben einem definierbaren Verhältnis zum traditionellen Objekt und zum Raum auch die Möglichkeit, stabile "Zeichen" einer Differenz zu errichten bzw. zu produzieren (Kunst) fraglich wird, erscheint es nur konsequent, entgegen einer Produktion konkreter Manifestationen oder deren Besetzung (etwa des Bildschirms in Form einer Videoskulptur) strukturelle, operationelle und prozessuale Komponenten ins Spiel zu bringen, d. h. eine grundsätzlich dislokative und disloziierte "Phänomenologie" zu entwickeln, die die Begriffe Präsenz, Zeit, Austausch und Prozess thematisiert bzw. konzeptualisiert. Wahrnehmung und Rezeption werden zur "Eingabe" und Teilnahme hin verlagert, d. h. mediale Schnittstellen stehen nicht mehr als ästhetische "Membranen" im Vordergrund , sondern als Interfaces, an dem sich Ereignisse "ins Gesicht blicken", d. h. bidirektionale Durchsätze entscheidend sind (die das Radio per institutioneller Definition nicht kennt, es sei denn im Rückgriff auf parallele Medien, das Telefon etwa, die jedoch der Bedingung unterworfen sind, nicht operativ mit Radio verknüpft zu sein).39 Die Frage der Schnittstelle verändert sich dadurch: sie ist weniger der Ort einer Erscheinung und damit ästhetischen Wahrnehmung (des Empfangs), als der einer Rekonstruktion von Daten, ihres "Lesens" , ihrer Modifizierung und neuerlichen Einspeisung, sprich: "Up- und Downloading" .

Dabei verlagert sich auch die Metapher des elektronischen Raumes und damit der des System-Raumes: die Besetzung oder Modifikation ist jetzt nicht mehr allein eine Frage (temporärer) Distribution und Ausbreitung - die Ausstrahlung einer Radio-Arbeit als eine Form der Skulptur etwa - sondern von (temporären) Konnexionen und Verteilungen (User-Gruppen); obwohl abstrakt und jenseits des Subjekts latent gegenwärtig, hat seine Aktualisierung andere Dimensionen: die Besetzung ist jetzt selbst inhomogen, diskontinuierlich und partiell, d. h. strategisch. Sie konstruiert kein ästhetisches Feld, sondern stellt Konnexionen her, entkörperte und körperlose Berührungen von Subjekten über systemische Kanäle, deren Datenfluss auch ästhetisch orientierten Rekonstruktionen dienen kann. Jede Aktivierung von derartigen Kanälen (Network Design) stellt eine temporäre Verteilung und Definition solcher Kanäle dar, möglicherweise eine Ästhetisierung solcher Verteilungen, jedenfalls eine spezifische Konstellation von Distanzen und Kontakten, sich selbst und den anderen Teilnehmern gegenüber. " Im Bannkreis der Kommunikation sind Dinge, Menschen und Blicke unablässig im Zustand virtuellen Kontaktes und berühren sich dosch niemals, weil dabei die Nähe oder die Ferne eine andere ist als die des Körpers zu dem, was ihn umgibt."40

Für diese Positionierung künstlerischer Produktion innerhalb eines medialen Handlungfeldes - ein Handlungsfeld, das, wie nochmlals betont werden muss, eminent durch apparative Faktoren vorstrukturiert und fixiert ist - ist das Projekt "Die Welt in 24 Stunden" , entwickelt und geleitet von Robert Adrian X, nach wie vor exemplarisch: diese "mediatisierte Situation", Teil der "Ars electronica 1982", verband Künstler in 16 Städten auf drei Kontinenten 24 Stunden lang miteinander - von 12 Uhr mittags am 27. September bis 12 Uhr mittags am 28 September 1982.41 Während dieser Zeit wurde eine "Konferenz" eingerichtet, die über das im I. P. Sharp-Timesharing-Netz eingerichtete ARTEX-Programm42 realisiert wurde. Daneben gab es Slow Scan Television, Fax und Tonübermittlung. Jeweils zu deren Ortszeit 12 Uhr mittags oder so nahe daran wie möglich wurden die Teilnehmer von Linz aus angewählt, um Arbeitsmaterial, Improvisationen und Informationen in den jeweils verfügbaren Medien auszutauschen. Mit den drei in Linz zur Verfügung stehenden Telefonleitungen war es möglich, drei Medien simultan zu senden oder zu empfangen. Jeder Kontakt dauerte ungefähr eine Stunde lang - eine halbe Stunde in jede Richtung. Die Teilnehmer am "Confer"-Programm des ARTEX-Netzwerkes waren während der gesamten Dauer des Projekts miteinander verbunden.
Die Ausgangssituation und der Ablauf - die Installierung einer Vielzahl von Apparaten zur Datenübertragung und ihr unausgesetztes Betreiben - zeigt bereits an, dass der "Event", als der er gesehen werden muss, nicht dahingehend konzipiert war, besondere Objekte oder Ergebnisse zu schaffen - "Kunstwerke", etwa über Fax - sondern dahingehend, dialogische Austauschverhältnisse als solche herzustellen und zu betreiben, d. h. besondere Verhältnisse zwischen den Teilnehmern zu konstruieren , kommunikative Ereignisse zu "produzieren". In gewissem Sinn stellte bereits die Konstellation des Projekt selbst das eigentliche "Werk" dar.
Es entstehen keine "Reservate" künstlerischer Medienarbeit, sondern nur spezielle Anwendungen und Besetzungen, Konfigurationen, die immer in einem grösseren Systemzusammenhang stehen und damit die weltweite Verschaltung, die die Medien ja installieren, sozusagen (partiell) reproduzieren. Durch diese Tatsache sind derartige Projekte allerdings auch nicht mehr in der Lage, ihr vorläufiges Territorium, das sie sich erschliessen, ohne weiteres als eines der Kunst zu definieren. Insofern geraten sie (mit Absicht) in einem Bereich, in dem ihre "Kompatibilität" mit bekannten kulturellen Mustern und Werten in bezug auf den Begriff "Kunst" in Frage gestellt ist.
Verdeutlicht wird diese Expandierung und die Betonung der Konfiguration durch eine von Norbert Hinterberger konzipierte "Sequenz" innerhalb des Projekts "Die Welt in 24 Stunden": der Bastel-Schnittplan eines österreichischen Bauernhofes wurde per Fax verschickt, sollte zusammengebaut, fotografiert und das Polaroid per Fax wieder zurückgeschickt werden; ein triviales Bastelmotiv wird zum Gegenstand einer sequentiellen kommunikativen Situation über und durch elektronische Bildmedien, wandelt seinen Bildstatus vom Senden zum Empfang völlig und dokumentiert dadurch die elektronischen Reproduktions- und Übermittlungsmechanismen. Wiederum bilden sich medienimmanente Symptome (im Zusammenhang mit dem Bildbegriff) quasi selbsttätig ab. Es geht also nicht um die Überlagerung, den Austausch an sich (gerade, weil hier nichts "getauscht" wird und kein Gegenstand von A nach B "verschoben" wird), sondern um die Kennzeichnung des Vorganges als eine Transformation, die vollständige Umformung einer ursprünglichen Eingspeisung. Gerade, weil sich in der Übermittlung, dem Implementieren von Information eine radikale Verschiebung auftut, gerät der Vorgang in den Blick des Projekts, nicht aufgrund der Informationen selbst, d. h. nicht aufgrund ihrer Bedeutung oder ästhetischen Qualität. Nicht die Botschaft oder die Form sind selbst kritisch oder künstlerisch zu interpretieren und/oder zu bewerten, es sind die Zwischenräume, die Relationen zwischen formalen Strategie-Elementen oder Botschafts/Inhalts-Fragmenten, die im Mittelpunkt einer Analyse und eines Tests stehen. Diese andere Konstruktion und Strukturierung von Elementen dient letztlich einer anderen Zielsetzung: es ist nicht die bestmögliche Kommunikation und Verschaltung von Orten, die interessiert (d. h. nicht die Kommunikation um der Kommunikation willen), sondern es sind gerade die Leerstellen, die Redundanzen und Reibungsflächen, die Zwischenfälle, die Verschiebungen und Verdichtungen, die Verzeichnungen innerhalb des Systems der Medien, die interessieren, weil an ihnen sichtbar werden kann, was ansonsten hinter der reinen Funktionalität verschwindet (in den achteinhalb Sekunden, die der Aufbau eines Slow-Scan-Bildes in den frühen 80er Jahren brauchte, konnte noch etwas anderes erscheinen). Kommunikation, Partizipation und Interaktion stehen nicht als zu optimierende Grössen im Mittelpunkt, sondern als komplexe und variable Handlungen und Ereignisse innerhalb eines Feldes, das das Subjekt aller Voraussicht nach immer mehr verdrängen wird: aus diesem Grund spielt die Zeit einen doppelten wichtigen Faktor, einerseits als die Zeit, die es erlaubt, noch etwas wahrzunehmen, und jene, die es erlaubt, noch eine exzentrische Perspektive gegenüber den Medien einzunehmen.43

In der Minimierung der Zeitfaktoren spiegelt sich allerdings vehement die Situation des Subjekts angesichts medialer "Berührungen" mit anderen Subjekten wider: der elektronische (jetzt längst digitale) Raum wird zu einem schwarzen Loch auch für das Subjekt und die es betreffenden Daten - Mediensysteme sind kein Feld der Mimesis und der Repräsentation, sondern der En- und Decodierung, d. h. einer Entstellung; sie sind vielmehr buchstäblich Räume ohne Orte, ohne Orte einer rekonstruierbaren Authentizität (Schnittplan, Subjekt), da sich diese per definitionem ausserhalb der Systeme befindet. Der elektronische Raum erscheint endgültig als eine "Welt" jenseits aller Kategorien, die in den anderen Räumen, denjenigen, in denen sich das Subjekt definiert und artikuliert, die dessen Vereinbarungen bestimmen, als ein reines Technotop. Das Subjekt (sein Bild, seine Sprache) ist darin nicht anwesend, sondern unterwegs, durchläuft En- und Decodierungen, Transformationen, Deformationen und produziert Effekte einer seltsamen Anwesenheit: "online".

Der Gegenstand eines Projekts wie "Die Welt in 24 Stunden" ist also die globale "Informationsmaschine", wie sie Richard Kriesche bezeichnet44. Diese als eine Sphäre der Entäusserung von Kategorien des Subjekts an Mediensysteme kennzeichnend, verfolgt Kriesch das Konzept, diese Entäusserung bis an die Grenze der Kapazität der Systeme zu treiben, um möglicherweise einen Punkt zu erreichen, an dem sie beginnt, sich gegen sich selbst zu richten. "information konterkarikiert in ihrer exzessivität als überinformation sich selbst."45 Diese Strategie der totalen Affirmation soll es ermöglichen, sich - zumindest partiell - gegen die fixierte Logik der Mediensysteme zu richten (analog etwa zum Begriff der "Bildwirklichkeit" im Rahmen von Video und Fernsehen46), d. h. sie gerade am Paradigma der Information zu dysfunktionalisieren: die Ekstase als Form der Kritik.

Wie lässt sich aber angesichts der "Durchlässigkeit" des Raumes, in dem sich das Subjekt konstituiert und erfährt, der beliebigen Ein- und Ausblendung von Räumen als aktualisierte Ereibnisfelder (etwa der Kunst) durch Mediensysteme überhaupt noch von einer Öffentlichkeit sprechen, von einem Ort als Schauplatz von Öffentlichkeit, wenn diese nicht mehr an der Ort selbst gebunden ist? "Weltcup lockt Leute an, die eigentlich gar nicht Fussball ansehen möchten, aber mit dreihundert Millionen anderen Menschen dortsitzen wollen. Diese dreihundert Millionen anderen Menschen schauen das gleiche Bild an. (...) Du hast das gleiche Objekt angeschaut, du sitzt in der gleichen Haltung und du schaust die gleichen Bildschirmbilder an. Das ist das Kommunikationsfeld und ist eigentlich in dem Sinne eine Art öffentlicher Raum. Es ist diese Art von Ereignis, diese Änderung von Ideen, die wir angehen müssten."47 Was Robert Adrian hier anspricht, ist das Phänomen des Angeschlossen-Seins, das nicht mehr nur ein Angeschlossen-Sein an die Medien selbst ist, sondern über diese ein Angeschlossen-Sein am Sich-Ereignen des Sozialen, kollektiver Vorstellungen, an Öffentlichkeit (eine Mittelbarkeit, die im Bereich des Sozialen lediglich reproduziert, was das Subjekt auch im Umgang mit sich selbst erfährt: dass es diesen Umgang mit sich selbst zunehmend nur mehr über Apparate betreibt, d. h. Selbsterfahrung bereits medial bzw. technisch strukturiert ist). Die Massenmedien fungieren längst als Schematismen, die vorselektieren, was der Fall ist, d. h. die operative Fiktion, an einer gemeinschaftlichen Realität beteiligt zu sein, macht die eigentümliche Passivität der Zeitungleser und der Fernsehzuschauer zur grundlegenden Form sozialen Verhaltens. Insofern gerät auch das Soziale zu einem Effekt der Medien.
"Im Grunde sehe ich ein Verschwinden des öffentlichen Raumes durch den medialen Raum."48 Es findet also eine Substitution statt, eine Verlagerung auch der sozial relevanten Aktivitäten in den Raum der Medien hinein.49 "Die klassischen Anforderungen an den öffentlichen Raum, nämlich Anwesenheit von Publikum, Gleichzeitigkeit einer kollektiven Vorstellung usw., die sind im Fernsehen mehr gegeben. Der elektronische Raum hat den öffentlichen Raum ersatzlos gestrichen. Er hat ihn (...) vom hier und jetzt befreit, von der Erfahrung von Raum und Zeit disloziert, in grössere terrestrische und temporale Kontexte gestellt. Der eigentliche Kernpunkt ist, dass der öffentliche Raum verschwunden ist, wovon der telematische Raum nur ein Symptom ist, weil durch die Technisierung, durch die Techno-Transformation der Welt der Abstraktionsgrad so angestiegen ist, dass die leibhafte plastische Erfahrung nicht mehr dem Abstraktionsgrad entspricht, den die Gesellschaft in ihrem Gesamtzustand erreicht hat."50 Das Angeschlossen-Sein an diesen abstrakten Handlungsraum bedingt zunehmend die Bedingungen der Möglichkeit eines Handelns innerhalb eines kollektiven Feldes überhaupt, d. h. durch eine Aktivität (und nicht mehr nur eine Teilnahme) Präsenz und Wirksamkeit zu erzeugen (überhaupt erst "addressierbar" zu werden). Dennoch: selbst in der Überschreitung einer Teilnahme (Radio) im Hinblick auf Eingriffe (Netzwerke) bleibt die "Senke" erhalten, die fundamentale Exzentrizität von Medien-"Raum" und Subjekt-"Raum".51 Jene Öffentlichkeit, die die Medien als Substitut konstruieren und produzieren, ist von einer prinzipiellen Abwesenheit gekennzeichnet und aus diesem Grund ein höchst paradoxes Konstrukt: ein Reich körperloser und symbolischer Berührungen und Anschlüsse. Wenn Mediensysteme Territorien der Signifikanten und damit des Symbolischen sind, ist auch das Subjekt selbst im Rahmen dieser "Veröffentlichungen" qua Angeschlossen-Sein nur als symbolische Figur präsent und präsentierbar. Durch diese Abwesenheit der Körper und deren Sprache, die eine grundlegende "Zerebralität" von Modellen und Konzepten gegenwärtiger digitaler Entwicklungen dupliziert (aber nicht nur: "Die freien Gedanken sind zerebrale Software, Geist in der Inbegriff aller möglichen Datenkombinationen, und Kultur heisst das Spiel auf der Tastatur des Gehirns."52), wird der Begriff der Öffentlichkeit, des öffentlichen Raumes von aller sozialen Dynamik "gereinigt" und es bleibt eine rein operationelle Dynamik symbolisch-systemischer Operationen. "Die Maschine behauptet also die symbolische Struktur völlig unabhängig von der Aktivität eines Subjekts; es wird vom Maschinenspiel des Symbolischen radikal dezentriert."53

In gewissem Sinn zeigt ein Projekt wie "Die Welt in 24 Stunden" trotz der Intention einer exemplarischen Besetzung und Manipulation medialer Kanäle und trotz seiner Konstruktion einer strategischen Sub-Öffentlichkeit, dass "Öffentlichkeit" in Zukunft im Wesentlichen ohne uns stattfinden wird. Und letztlich muss man sich auch von der Metapher des (elektronischen) Raumes verabschieden, obwohl dieser in der Lage ist, bestimmte Effekte zu kennzeichnen, denn eigentlich handelt es sich nicht einmal mehr um Manipulationen von Orten oder Räumen und ihrer Verschaltung: systemrelevant sind allein die Eingaben, d. h. die Erscheinungen auf den Interfaces (Videobild, Bildschirm), und nicht die Räume selbst, auf die sich die Interfaces dennoch beziehen. Das stellt sich als Differenz zur Analogtechnik heraus (und digitales Radio ist seinem gegenwärtigen Konzept nach lediglich die Perfektion des analogen Modells): diese besetzt den Raum extensiv (Ausstrahlung), während ihn digitale Systeme annektieren und transformieren, eine systeminterne "Repräsentation" des Raumes einführen, die die Dis- Kontinuität (und keine Analogie) des Raumes jenseits der Systeme verschärft. "(...) der reale Ort der Begegnung wird bei der Telekommunikation unwichtig, d. h. der topische Aspekt tritt in den Hintergrund gegenüber dem teletopischen, die Einheit von Zeit und Ort teilt sich auf in Sender und Empfänger der Signale, die durch die Errungenschaften der elektromagnetischen Interaktivitäten gleichzeitig hier und dort sind. (...) Damit liegt der "tele-visuelle Horizont" einzig und allein in der Gegenwart der Sendung."54 Das Fragezeichen des Titels verweist auf dieses Zurücklassen aller Kategorien des Subjekts und vor allem seiner "analogen" Organisationsformen. Was sich abzeichnet, ist nicht mehr nur eine Dichotomie zwischen Subjetraum und Medienraum, sondern zwischen dem Subjekt und dem Sozialen als Erscheinungsform jenseits und ausserhalb der Medien und ihren Repräsentations- und Reorganisationsformen innerhalb der Mediensysteme, eine Dichotomie, die die bereits konstitutive Spaltung des Subjekts verschärft und die Frage nach dem Ort stellt, an dem es sich artikuliert und kollektiviert: insofern scheint sich das Diffundieren des Öffentlichen und damit des Sozialen in die Mediensysteme hinein abzuzeichnen. Dennoch lässt dieses Diffundieren den Begriff der Öffentlichkeit ebenso verzeichnet zurück wie jenen des Raumes: als eine Metapher.

1Michel Foucault, "Andere Räume", in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991, S. 34-46, S. 39.
2Gottfried Bechtold in einem Interview für die Radiosendung "Kunstradio-Radiokunst", Österreich 1, April 1985, in der auch die Arbeit uraufgeführt wurde (Hervorhebung des Autors).
3Ebda.
4Vgl. Wolfgang Hagen, "Computerpolitik", in: Norbert Bolz u. a. (Hg.), Computer als Medium, München 1994, S. 139-60, S. 146.
5Wolfgang Hagen, "Über das Radio (hinaus)", in: Transit (Hg.), Transit#2, Innsbruck 1993, S. 12-56, S. 16.
6Wolfgang Hagen, "Über das Radio (hinaus)", S. 38.
7Und, so muss man hinzufügen, den Gottfried Bechtold als die Erinnerung des Hörers angibt. Damit weist er auf ein Spezifika des Radios hin, dass es sich nämlich nicht speichern lässt; er verlegt die Aufzeichnung und Aufbewahrung dessen, was in der Ausstrahlung sozusagen verstrahlt und nicht mehr existiert in den Hörer.
8Georg Christoph Tholen, "Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine", in: Norbert Bolz u. a. (Hg.), Computer als Medium, S. 111-35, S. 129.
9Peter Weibel, "Territorium und Technik", in: Ars Electronica (Hg.), Philosophien der Neuen Technologien, Berlin 1989, S. 102f.
10Vgl. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983, insbes. S. 40f.
11Beispielhaft durch Projekte wie "Telefonmusik" (1983) und "Wiencouver IV" (1983), koordiniert von der Gruppe "Blix", Wien, letzteres in Zusammenarbeit mit "Western Front", Vancouver, aber auch "Crystal Psalms" (1988), Konzept Alvin Curran, eine Coproduktion verschiedener europäischer Rundfunkanstalten, und "Heartbeats" (1989) von Wolfgang Temmel, eine Coproduktion von "Kunsrradio-Radiokunst" und Ars Electronica.
12Peter Weibel, "Territorium und Technik", S. 104.
13Vgl. Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, bes. S. 95.
14Friedrich Kittler, "Geschichte der Kommunikationsmedien" in: On Line. Kunst im Netz, Steirische Kulturinitiative, Graz 1993, S. 66-81, S. 68.
15Vgl. Reinhard Braun, "Mediensysteme als mentale Systeme", in: MedienKunstPassagen 04/1992.
16Wolfgang Hagen, "Über das Radio (hinaus)", S. 146.
17Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 93.
18Vgl. dazu: Paul Virilio, Krieg und Fernsehen, München 1993.
19Was hier als "Hintergrund" skizziert wird, ist vergleichbar mit dem "Datenhintergrund" bzw. dem "Rauschen", von dem Richard Kriesche spricht; der Begriff konnotiert aberdie grundlegende Situation elektronischer/digitalen Medien: es wird durch die verschiedenen Codierungsverfahren eine einheitliche Ebene der Verarbeitung und (internen) Repräsentation eingeführt, die NICHT ident ist mit dem, WAS dadurch repräsentiert wird; die verschiedenen Codes errichten also eine Ordnung HINTER bzw. VOR den Inhalten, eine Ordnung VOR der Ordnung der Schrift, des Bildes etc. - es entsteht eine universelle Projektionsfläche, ein universelles "Tableau", ein Begriff, den etwa Holger van den Boom in Anlehnung an Michel Foucault verwendet, oder, mit anderen Worten, eine universelle "Oberfläche" für das Symbolische; es lassen sich also die operativen und syntaktischen Operationen des Systemraums digitaler Medienverbunde (in Fortsetzung der symbolischen Struktur der Schrift) als symbolische beschreiben, mithin der Systemraum als symbolische Topografie entwerfen; vgl.: Holger van den Boom, "Künstliche Intelligenz und Fiktion", in: Florian Rötzer, Peter Weibel (Hg.), Strategien des Scheins. Kunst Computer Medien, München 1991, S. 96-109, und: Jens Schreiber, "Stop Making Sense", in: Norbert Bolz u. a. (Hg.), Computer als Medium, S. 91-110, der die operative Grammatik digitaler Maschinen vom Begriff der Sprache bei Lacan trennt, weil sie nur existiert, insofern sie sich schreibt, d. h. ausschliesslich einen operativen Modus kennt; vgl. auch: Georg Christoph Tholen, "Platzverweise. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine", in: ebd., der überhaupt den Begriff des Symbolischen heranzieht, um das dichotome und streng bipolare Verhältnis von Subjekt und technischen Apparaten oder Systemen in Richtung eines "Dritten" zu verschieben, das sich - verkürzt gesprochen - als permanente Leerstelle innerhalb von Verhältnissen sich darstellt, wo sich der Sinn überhaupt erst ereignen kann, d. h. zwischen dem Symbolischen der Maschine und des Subjekts differenziert über die Art und Weise, wie Maschine und Subjekt auf es Bezug nehmen; diese Bezugnahmen auf Lacan verdeutlichen jedenfalls die Analogie zwischen dem System der Schrift und technischen Systemen (und den von ihnen konstruierten Topografien, d. h. ihre Effekte von "Räumlichkeit"); vgl. auch: Reinhard Braun, "... running to stand still", in: Marc Mer u. a. (Hg.), Translokation, Wien 1994.
20Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 135.
21 "La Radia", Futuristisches Manifest vom Oktober 1933, erschienen in der Gazzetta del Popolo; übersetzt von Friedemann Malsch in: Interferenzen IV. Die Geometrie des Schweigens, Hrsgg. vom Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 1991, o. S.; vgl. dazu auch: Eduardo Kac, "Aspekte einer ästhetik der Telekommunikation", in ZERO, hrsg. von der Steirischen Kulturinitiative, Graz 1993, bes. S. 42f.
22Heidi Grundmann, "Die Geometrie des Schweigens", in: Interferenzen, o. S.
23 Heidi Grundmann, "Die Geometrie des Schweigens", o. S.
24Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 97.
25Vgl. Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 67 ff.
26Vgl. dazu: Friedrich Kittler, "Protected Mode", in: Florian Rötzer, Peter Weibel (Hg.), Strategien des Scheins. Kunst Computer Medien, München 1991, S. 256-67.
27Ebd.
28Vgl. Peter Weibel, "Territorium und Technik".
29Peter Weibel, "Territorium und Technik", S. 86.
30Die Analogie zum Begriff des Symbolischen bei Lacan erscheint vor allem deshalb zulässig und von Bedeutung, weil Lacan durch diesen Begriff die Produktion von Sinn und Bedeutung allein im Feld des Signifikanten lokalisiert, d. h. ohne notwendigen Konnex zum Signifikat. Diese Konfiguration lässt sich auch für mediale Systeme und die Sphäre, die sie "sind" und die sie erschliessen als Modell verwenden (zum Begriff der Immanez, der hier anklingt, vgl. den Text von Thomas Feuerstein in dieser Publikation). An dieser Stelle sei auch zugegeben, das sich die (theoretische) Beschreibung des Phänomens "elektronischer Raum" über weite Strecken strukturalistischer Terminologie bedient; dies nicht, um die Diskontinuitäten oder die Diachronie zu verdecken (Zeit ist ja ein Schlüsselbegriff), sondern um das Phänomen als Erscheinung zu erfassen, es zusammenzufassen, bevor es auch sprachlich wieder aufgelöst wird. Zu Lacan vgl. Jacques Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I, Olten 1957.
31Vgl. Michael Müller, Hermann J. Sottong, "Simulation als Äusserungsform. Ansätze zu einer semiotischen Theorie der Simulation", in: Strategien des Scheins, S. 228-45, worin die Autoren am Beispiel des Fernsehens die Diskontinuierung der Referentialität durch die verschiedenen Sendungstypen im Rahmen einer allgemeinen Tendenz, diese Referentialität durch eine semiotische Immanez aufzuheben, besprechen.
32Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 108.
33Friedrich Kittler, "Anmerkungen zum Volksempfang", in: Interferenzen IV, oS.
34Vgl. Friedrich Kittler, "Protected Mode".
35Richard Kriesche, "Im Rauschen der Zeichen", in: Interferenzen IV, o. S.
36Vgl. Reinhard Braun, "Systeme", in: Reflexionen. Zu Kunst und Neuen Medien, Wien 1993, S. 35-48.
37Vgl. Holger van den Boom, "Künstliche Intelligenz und Fiktion", in: Strategien des Scheins, S. 96-109, S. 102.
38Vgl. etwa die verschiedenen Projekte, die 1992/3 von der "Steirischen Kulturinitiative" durchgeführt wurden, dokumentiert in: ZERO, hrsg. von der Steirischen Kulturinitiative, Graz 1993, oder das Projekt "Hausmusik" von Feuerstein/Strickner in Zusammenarbeit mit Mathias Fuchs und Mia Zabelka: Hausmusik, hrsg. von Thomas Feuerstein u. a., Wien 1993.
39Selbstverständlich ist die mögliche Konzeption solcher Projekte erst möglich, wenn die strukturellen Bedingungen vorhanden sind, d. h. ein bestimmter Grad an Verknüpfung und Zusammenfassung verschiedener Mediensysteme erreicht ist; die Gründe für die Erreichung eines derartigen Komplexitäts- und Vernetzungsgrades liegen ebenso selbstverstänflich woanders.
40Jean Baudrillard, "Videowelt und fraktales Subjekt", in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, S. 252-64, S. 255f., dort auch insgesamt zum Begriff des "Angeschlossen-Sein" bzw. seiner Radikalisierung, vgl. auch: ders., Paradoxe Kommunikation, Bern 1989, S. 35f.
41Vgl. Kunstforum International, Bd. 103/1989, "Im Netz der Systeme", S. 142 ff.
42ARTEX wurde 1980/81 als Textprogramm dem kommerziellen Netzwerk I. P. Sharp APL Network implementiert und stellte das erste von Künstlern regelmässig benützte und eingesetzte Netzwerk dar. I. P. Sharp besass ein weltweit bestehendes Netzwerk von Terminals, die im Time-Sharing Verfahren mit einem Zentralcomputer in Toronto verbunden waren, der über die jeweiligen Ortsleitungen zum nächsten I. P. Sharp Büro erreicht werden konnte und über den die Kommunikation lief. Das ARTEX Programm wurde vom I. P. Sharp Büro Wien (Gottfried Bach) in Zusammenarbeit mit Robert Adrian und Bill Bartlett auf deren Initiative hin entwickelt und existierte bis 1991. ARTEX stellt die verbesserte Version von ARTBOX dar, das seit etwa 1979 existierte. ARTEX erlaubte, Nachrichten zu verschicken, zu verwalten usw. und besass Zugang zu internationalen Datenbanken. Es wurde über eine Reihe einfacher Befehle bedient und besass eine On Line Hilfe, d. h. das Programm wurde möglichst einfach gehalten, um unerfahrenen Teilnehmern ebenso eine Verwendung zu ermöglichen (Quelle: Art Telecommunication, hrsg. von Western Front und BLIX, Wien-Vancouver 1984 und Robert Adrian X).
43Vgl. Reinhard Braun, "Mediensysteme als mentale Systeme", in: MedienKunst Passagen 04/1992, S. 19-26.
44Teleskulptur 3, Hrsgg. von Kulturdata, Graz 1993.
45Ebda, S. 76.
46Vgl. Reinhard Braun/Thomas Feuerstein, "Teletopologie Österreich: Fernsehen", in: Heidi Grundmann (Hg.), On the Air, Innsbruck 1994.
47Robert Adrian X in einem Interview mit Lucas Gehrmann, das im Rahmen einer Interviewreihe im Zusammenhang mit einem Forschungsauftrag des Vereins Transit im Herbst 1993 geführt wurde, im Folgenden "Transit-Interview" (Hervorhebung des Autors).
48Peter Weibel, "Transit-Interview" mit Thomas Feuerstein und Romana Schuler.
49Etwa was "Virtual communities" anbelangt, vgl. dazu: Reinhard Braun: "Systeme", insbes. S. 43f.
50Peter Weibel, "Transit-Interview".
51 Entgegen der von Norbert Bolz immer wieder bekräftigeten These befinden sich die Medien doch "dort draussen" bzw. befindet sich das Subjekt zunehmend "hier draussen", vgl. Norbert Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 119.
52Norbert Bolz, "Computer als Medium - Einleitung", in: Norbert Bolz, Friedrich Kittler u. a., Computer als Medium, München 1994, S. 9-16, S. 9; der an dieser Stelle selbst sozusagen in mediale Ideologien in Form einer Zeitdiagnostik einführt.
53Norbert Bolz, "Computer als Medium - Einleitung", S. 13.
54Paul Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993, S. 48.


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