ALVIN CURRAN
MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH III
the listening well




III   THE LISTENING WELL

"Während unseres Aufenthalts im ländlichen Belgien probten wir und sahen dem Nebel zu. Am Abend gingen wir alle zum Brunnen und sangen und spielten Saxophon und Posaune, bis überirdische Säulen reflektierten Klanges entstanden. Plötzlich kippte das wertvolle Ziljian-Becken des Holländers über den Rand in den bodenlosen Abgrund - über den Mittelpunkt der Erde hinaus. Wir erstarrten, die Musik löste sich auf; später hörten wir die Aufzeichnung an und schrien und versuchten uns vorzustellen, wie dieses wunderbare Becken je wieder aus dem Inneren des Brunnens lebendig würde.10 John Cage sagte einmal: 'Oh Mond, warum bist du so zeitgenössisch ... Tanz der Bauern ...'."11

THE LISTENING WELL ist ein öffentliches Sound-Environment um einen eigens entworfenen Brunnen. Es soll als Zufluchtsort für den Rückzug aus der profanen Welt dienen, aber auch als interaktives öffentliches Musikforum. Es wird also abwechselnd als Hör-Raum für Klang-"Schnappschüsse" aus der ganzen Welt fungieren und als eigenständig geschaffenes elektronisches Live-Musikinstrument für Publikumsbeteiligung. Der Brunnen steht in einer architektonisch und akustisch dem Projekt entsprechenden Konstruktion und hat die folgenden Abmessungen: 2.3 m Durchmesser, 1.3 m Höhe über dem Boden, 10 - 20 m Tiefe

Ursprünglich für ausgewählte Standorte im Freien gedacht - wobei mindestens 80 m2 Fläche zur Verfügung stehen müssen - könnte der Brunnen in manchen Fällen auch für eine Aufstellung in einem Gebäude adaptiert werden. Sechs hochwertige Breitbandlautsprecher werden am unteren Ende des Schachtes installiert, zusätzliche Lautsprecher werden an der Außenseite versteckt angebracht. Der sichtbare Teil des Brunnens ist ein künstlerisch gestaltetes Objek12, das leicht zugänglich und gleichzeitig so sicher wie möglich sein soll. Das Ganze wird von einem ansprechenden durchsichtigen Gehäuse umschlossen, das die akustischen Eigenschaften des Brunnens verstärkt und ihn von Geräuschen von außen isoliert.

Der Brunnen hat zwei Hauptfunktionen, die getrennt gewählt oder kombiniert werden können (zusätzliche Funktionen ergeben sich vielleicht im Zuge der Forschung).

1. In der ersten Funktion - dem ZUHÖRMODUS - möchte ich ein monumentales Klangporträt der Welt schaffen 13- einen kontinuierlichen, aber sich ständig verändernden Mix von interessanten "Klang-Schnappschüssen" von Orten, Ereignis-sen, Objekten, Stimmen, Tieren und Musik von allen Ecken der Erde - aus meinem Archiv und aus neu aufgenommenen Quellen. Diese werden digital gespeichert, selektiert, und allein und in Gruppen von automatisierten Abmischungen gespielt, die auch wieder nach dem Zufallsprinzip "komponiert", d.h. ausgewählt und gemischt werden. Alle "Klang-Schnappschüsse" (Samples) werden auf einer leistungsfähigen Festplatte gespeichert, die mit einer digitalen 8-Kanal Audio-Workstation verbunden ist.14 Ein weiterer Computer mit einem in MAX geschriebenen Kompositionsprogramm wird quasi als Dirigent eingesetzt und wählt jeweils 6 Samples gleichzeitig aus und dirigiert sie zum automatischen 6-Kanal Mischpult der Audio-Workstation. Eines, manchmal zwei und seltener auch mehr dieser Samples werden dann, je nach dem momentanen Status der Mixing-Software, stärker hörbar. Auf jeden Fall erfolgt ein Crossfading aller Klänge mit unterschiedlicher Anschlagsdynamik (zwischen 15 und 60 Sekunden/ pro Kanal/Null-max und max-Null Amplituden), und alle 2 bis 5 Minuten gibt es einen neuen Zyklus ausgewählter Klänge.

2. In der zweiten Funktion - dem SPIELMODUS - wird eigens konzipierte Software (derzeit in Arbeit) es dem Publikum ermöglichen, mit dem Brunnen und seinem computerisierten Musiksystem direkt in einen musikalischen Dialog zu treten. Rufe, gesungene Töne oder mit Instrumenten erzeugte Klänge, die in den Brunnen hinein erklingen, werden "erfaßt" und sofort durch Echtzeit-Bearbeitung (mittels Looping, Time-stretching, Verzögerung, Filtern, LF Modulation etc.) in entsprechende elektronische "Antworten" übersetzt. Gleichzeitig werden durch den Live Input des Publikums mehrstimmige Synthesizer getriggert, wodurch größere musikalische Strukturen und Umwandlungen entstehen. Die Absicht ist, das Publikum zu weiterem Input anzuregen und so eine Kette von kreativen Dialogen zwischen Publikum und dem elektro-nischen System des Brunnens zu erzeugen. Eine begrenzte Zahl (1 - 6) Menschen können gleichzeitig teilnehmen; auch Konzerte oder Aufnahmen professioneller Künstler würden angeregt werden. Die elektronischen Reaktionen sind alle in MAX15 geschriebene algorithmische Musikkompositionen, die ich seit 1988 entwickelt habe. Technisch betrachtet, werden 1 - 6 automatisch aktivierte Hyperkardioid-Mikrophone (mit Noisegate zur Vermeidung von Feedback) an einen Pitch-to-Midi Converter ("Pitchrider") angeschlossen, dann wieder an einen Computer (mit MAX Software) und eine MIDI Schnitt-stelle. Diese Anordnung steuert einen oder mehrere 16-Stim-men Synthesizer/Sampler und ist mit einem zweiten automatischen 6-8 Kanal Mixer/Mischprogramm verbunden, das an die Verstärker und Lautsprecher angeschlossen ist.

LAUTSPRECHERSYSTEME und AKUSTIK: Akustisch kann der Brunnen selbst als sehr ungewöhnlicher Lautsprecher und Resonanzraum betrachtet werden, da die tief unten entstehenden Klänge nach "oben" geleitet werden (wodurch ein gewisser Eindruck von Distanz, Widerhall und unregelmäßigem Frequenzverhalten entsteht) und die von oben in den Brunnen gerichteten Klänge eine natürliche Reihe von Echos und Widerhall auslösen. Um die im Inneren gespielten Klänge schärfer zu fokussieren, ist ein kleines Verstärkungssystem versteckter Außenlautsprecher (mit Woofer und Sub-Woofer) geplant, die außen am Fuß des Brunnens, unter dem Pflaster (mit Gitteröffnungen) installiert sind, sowie kleine Boxen mittlerer bis hoher Frequenz, die etwa 3 m oberhalb aufgehängt werden. Ihre Reaktion wird analog zu der des Systems im Brunnen verzögert und reflektiert.

ARCHITEKTUR und DESIGN: Wann immer wir das Glück haben, den Brunnen realisieren zu dürfen, wird die Anlage in Zusammenarbeit mit lokalen ArchitektInnen/KünstlerInnen entworfen, deren Aufgabe es sein wird, ein eindrucksvolles visuelles Objekt - das den Brunnen, sein Gehäuse und die umgebende Landschaft umfaßt - zu schaffen, wie auch den Innen-raum zu entwerfen, in dem 25 - 50 Leute bequem und sicher Platz finden sollen.

Abschließend möchte ich anmerken, daß ich mir durchaus bewußt bin, daß ich mit diesen Werken sehr eigenständige, individuelle Wege beschreite - mit wichtigen künstlerischen Kreuzungspunkten - um dort einigen dringlichen Problemen der Musikforschung am Ende dieses Jahrhunderts zu begegnen (d.h. digitale Techniken, automatisierte Musiksysteme, Musik außerhalb der Konzertsäle, Musik als öffentlicher Auftrag, Komposition mit Natur-Klängen, Mensch-Digital-Schnittstelle, große kooperative Installationen, etc.). Ich bin mir auch des Umfangs und der Kosten dieser Projekte bewußt, die sie unvermeidlich auf wenige öffentliche oder private Realisierungen begrenzen. Durch die experimentelle Natur der Werke und ihren künstlerischen/ technischen/wirtschaft-lichen Anspruch scheinen sie auch nicht in die gegenwärtige weltweite Musikszene - im Osten, Westen, Norden und Süden - zu passen, die von endloser Expansion und Schrumpfung und gleichzeitig von gegenseitiger Kontamination geprägt ist, wobei nationale, stilistische und rituelle Grenzen verschwimmen oder völlig aufgehoben werden. Hier finden wir einen frenetischen musikalischen Markt, auf dem Beethoven, die Beastie Boys, tibetische Mönche und John Cage alle zum gleichen trans-ökonomischen Preis verhökert und verkauft werden. Hier erleben wir, wie verwirrte Massen kommen, um einen Atemzug Musik zu schöpfen, so wie Erstickende verzweifelt nach Luft ringen. Hier steigt die klangliche und musikalische Verschmutzung unserer Umwelt, die Weltbevöl-kerung nimmt zu und der Einsatz elektronischer Klangverstär-kung ist außer Kontrolle geraten. Sicher, für viele Menschen ist heute Musik die einzige Gesellschaft und ein Palliativ gegen den Streß, die Belastung durch Arbeit, Gesellschaftsleben, Einsamkeit und Stille. Aber ich hoffe dennoch, daß meine Vorschläge, originale Musikinseln zu kreieren, die allen überall zugänglich sind und die ich hier als einfache "öffentliche Projekte" beschrieben habe, eine neue Art des Zuhörens abseits vom Getöse des Marktes anregen werden - ein Hören unter der Oberfläche und eine Beteiligung, die über unseren unablässigen und oft unkritischen Konsum der musikalischen Aufputschmittel unserer Zeit hinausgeht.

ANHANG:
SPATIAL CONTROL, von Stefan Tiedje, Berlin 1994.
Zwei Computer werden getrennt eingesetzt. Einer, der Currans neu entworfene MAX Patches verwendet, steuert nur die Musikstrukturen (Zeit, Dichte, Dauer, Klangfarbe, Register, etc.) des gesampelten und synthetisierten Materials der "Klangbibliothek". Um diese Klänge räumlich zu bewegen, wird ein zweiter Computer mit einem anderen MAX Patch an einen oder mehrere MIDI Mixer mit so vielen Sendekanälen, wie es Lautsprecher gibt, verbunden. Ich habe das erfolgreich mit zwei "Mixer 7" von Mark of the Unicorn ausprobiert, um sieben Klangquellen durch acht Lautsprecher zu bewegen.

Wir danken dem LEONARDO MUSIC JOURNAL und der M.I.T. PRESS für die freundliche Genehmigung, diesen Essay zu übersetzen und abzudrucken.



Fußnoten

10. Aus den gemeinsamen Erinnerungen des Ensembles Musica Elettronica Viva, ca. 1968
11. Aus "I - VI" (The Norton Lectures, 1988), John Cage.
12. Es ist geplant, daß die Künstlerin Anna Murch für eine mögliche Realisie-rung des Listening Well in den USA verantwortlich sein wird; leider können ihre Zeichnungen nicht vorgestellt werden.
13. Trotz der konzeptuellen Ähnlichkeit mit dem MAGNETIC GARDEN hat die Musik des LISTENING WELL einen völlig anderen Kompositionsaufbau, der kurzfristige Linearität und Kontinuität betont, im Gegensatz zu den langfristigen und komplexen Entwicklungen des früheren Werks.
14. Bezieht sich im allgemeinen auf die Software und Hardware der multifunktionellen digitalen Recorder/Mixer/Editoren/Prozessoren wie die bekannten Digidesign, DAR und Fairlight.
15. MAX ist ein graphisches Musikprogrammiersystem, das Miller Puckette 1986 bei IRCAM entwickelte. Die hier erwähnten Programme wurden auf meinen Vorschlag von Chris Dobrian und Tim Walters zwischen 1989 und 1994 geschrieben.

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