BILL FONTANA
KLANGÖKOLOGIE UND DIE TRANSFORMATION DES LÄRMS


Zeitgleich installation : SIMULTANEOUS RESONANCES

Wir blicken um uns und fast alles, was wir sehen - mit Ausnahme von Lichtreflexionen und Schatten - entspricht genau dem Ort, auf den wir blicken. Beim Hören haben wir nicht dasselbe Gefühl einer räumlichen Entsprechung. Bei der visuellen Wahrnehmung schauen wir direkt auf das, was gesehen wird; beim Hören orientieren wir uns danach, wo das Geräusch ist, aber nicht unbedingt danach, woher es kommt. Bei der visuellen Wahrnehmung besteht im allgemeinen Gleichzeitigkeit zwischen dem/der Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen Objekt, bei der auditiven Wahrnehmung gibt es oft eine Zeitverschiebung, da wir ein Geräusch oft hören können, bevor oder nachdem wir es sehen, und manchmal sehen wir auch gar nicht, was wir hören. Da Geräusche im vollen Kreis von 360 Grad; wahrgenommen werden, hören wir ständig sich überlappende Reste zahlreicher Geräusche. Wenn wir gelernt hätten, uns gedanklich immer dem zuzuwenden, was wir hören, würden wir - ähnlich wie beim Sehen - ein Gefühl der räumlichen Entsprechung entwickeln. Da wir in unserer Kultur aber nicht geschult werden, uns mental auf Geräusche auszurichten, haben die Zeitverschiebung zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir hören, und die daraus resultierende Unstimmigkeit zwischen unserem Gefühl der visuellen und der auditiven räumlichen Entsprechung dazu beigetragen, daß wir in unserer Kultur einen blinden (tauben) Fleck haben - den Begriff des Lärms.

Das Gefühl der räumlichen Entsprechungen ist bezeichnend dafür, wie wir als Kultur aus unserer Wahrnehmung eine Bedeutung ableiten. Durch das Anschauen wird das gesehene Objekt herausgehoben und identifizierbar und kann in logischer Folge als es selbst betrachtet werden. Das drückt sich in einem Namen aus. Die Namen, die wir haben, haben sich aus funktionellen visuellen Erfahrungen entwickelt; semantische Systeme machen diese Erfahrungen deutlich und abgrenzbar.

"... wenn die allgemeine Beschreibung der Welt wie ein Muster der Welt ist, dann heften die Namen es an die Welt, so daß die Welt zur Gänze davon bedeckt ist."
(Wittgenstein, "Philosophische Untersuchungen")

Die Sprache ist die Demarkationslinie. Sie bestimmt, worauf wir uns gedanklich konzentrieren. Sie ist der Denk-Raum, in dem die Dinge klar werden.


KULTURELLE PHOBIEN:

"Wenn man den Namen nicht weiß, verschwindet das Wissen um das Ding selbst."
"Ein Bild hielt uns gefangen, und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen."
(Wittgenstein, "Philosophische Untersuchungen")

In unserer visuell ausgerichteten Kultur sind unsere grundlegenden Reaktionen auf unsere alltägliche Umwelt semantisch. Alltäglichen Geräuschen wird keine semantische Bedeutung zugeschrieben (Lärm). Die "Lärmbelästigung" läßt sich (mit Ausnahme der Geräusche, die gefährlich laut sind, wie Düsenflugzeuge oder schwere Maschinen aus nächster Nähe) als semantisches Problem erklären. Da Geräusche nur bedeutungsvoll sind, wenn sie semantisch zugeordnet wurden, haben wir uns in unserer Kultur vor allem mit Sprache und Musik beschäftigt. Geräuschen an sich hat man keine kommunikative Wirksamkeit zugebilligt.

"Farben sind in der Natur 'natürlich' vorhanden, musikalische Klänge gibt es in der Natur nicht, außer rein zufällig und flüchtig; es gibt nur Geräusche. Klang und Farbe haben nicht den gleichen Rang; zulässig ist nur ein Vergleich zwischen Farben und Geräuschen - also zwischen visuellen und akustischen Ausdrucksformen der Natur . . . die Natur erzeugt Geräusche, keine musikalischen Klänge; diese sind nur eine Folgeerscheinung der Kultur, die Musikinstrumente und das Singen erfunden hat. Abgesehen vom Vogelgesang . . . würde der Mensch keine musikalischen Klänge kennen, hätte er sie nicht erfunden."
(Claude Levi-Strauss "Le Cru et le Cuit")

Die Welt der alltäglichen Geräusche ist voller semantischer Ambiguität. Die meisten Menschen erkennen keinerlei Muster in den Alltagsgeräuschen. So wird die normale Erfahrung nicht semantisierter Geräusche als Lärm interpretiert. Eine Desambiguisierung der Geräusche wird erst möglich sein, wenn die Gesellschaft die Fähigkeit entwickelt, Muster oder Merkmale wahrzunehmen, die als Teil eines semantischen Kontexts erkennbar sind, wie das Klangvokabular zeitgenössischer Musik und Klangkunst.

Das Problem des Lärms hat sich historisch aus der Akkumulierung mangelhafter Konzepte entwickelt, die nicht bedenken, daß alles, was im Umfeld des Menschen geschieht, akustische Nebenprodukte erzeugt. Die akustische Umweltverschmutzung ist ein Zirkelproblem: die Menschen beachten die Geräusche nicht, die sie jeden Tag hören und erleben, und daher gibt es überhaupt keinen Plan für den Umgang mit den akustischen Folgen. Das Problem ist ein sich selbst perpetuierender kultureller blinder (tauber) Fleck im kollektiven Bewußtsein.

Die Aufgabe der Klangkunst und des akustischen Designs ist es, alle alten, historischen Definitionen von Lärm und die sich daraus ableitenden vorgefaßten Meinungen der meisten Menschen über die Geräusche, mit denen sie leben, von Grund auf in Frage zu stellen.

Ich beschäftige mich in meiner Arbeit seit 25 Jahren mit der Erforschung der ästhetischen Bedeutung von Geräuschen, die sich in einem bestimmten Augenblick ereignen. So habe ich eine Reihe von Projekten geschaffen, die die städtische und natürliche Umwelt als lebende Quelle musikalischer Information behandeln. Dabei gehe ich davon aus, daß es in jedem gegebenen Augenblick etwas Bedeutungsvolles zu hören gibt. Ich nehme sogar an, daß Musik - im Sinne bedeutsamer Klangmuster - ein natürlicher Prozeß ist, der fortwährend stattfindet.

Die meisten meiner Projekte wurden im öffentlichen städtischen Raum geschaffen, wo eine architektonische Gegebenheit als physischer und visueller Bezugspunkt für Geräusche verwendet wird, die dorthin verpflanzt werden. Meistens werden Lautsprecher außen an einem Gebäude oder Denkmal angebracht und eingesetzt, um die Situation zu dekonstruieren und zu verwandeln.

Mein jüngstes Projekt in Paris, "Sound Island" (Klanginsel), wurde am Arc de Triomphe installiert. Der Arc de Triomphe ist eine Insel in der Mitte eines immensen Kreisverkehrs. Es ist eine städtische, architektonische Insel, die nicht von Wasser umflutet ist, sondern von einem Meer von Autos. Der ständige Strom von Hunderten von kreisenden Autos ist das beherrschende Hör- und Seherlebnis, wenn man unter dem hochragenden Denkmal steht und auf Paris blickt. Die Klangskulptur wollte diese visuelle und auditive Erfahrung des Verkehrs verwandeln. Natürliches weißes Rauschen wurde live vom Meer an der Küste der Normandie auf Lautsprecher an der Fassade des Denkmals übertragen. Die akustische Präsenz der tosenden Brandung schuf die Illusion, daß die Autos geräuschlos waren, im Gegensatz zu den visuellen Aspekten der Situation. Das Geräusch des Meeres ist natürliches weißes Rauschen und hat die psychoakustische Fähigkeit, andere Geräusche zu überdecken, nicht weil es lauter ist, sondern einfach wegen seiner harmonischen Komplexität. Weißes Rauschen ist das akustische Äquivalent der Unendlichkeit, und kein Geräusch (mit Ausnahme besonders schriller wie Sirenen, Autohupen, etc.) kann es durchdringen.

Als öffentlicher Raum ist der Arc de Triomphe eine der am meisten besuchten Sehenswürdigkeiten in Paris. Der stete Strom der Touristen ist so stark wie der Verkehr rundum. Die Transformation des Denkmales durch das Geräusch des Meeres, ohne daß die physischen Aspekte der Situation geändert wurden, schuf ein interessantes soziales Experiment zur Bedeutung von Klang im öffentlichen Raum. Die meisten Besucher waren verblüfft, wenn sie die Stufen von der Fußgängerunterführung heraufkamen und vom Meer der Normandie begrüßt wurden, gerade bevor sie unter dem Denkmal standen. Dieser Übergangspunkt war psychologisch sehr wichtig, er kreierte ein akutes Gefühl des Unerwarteten und veranlaßte viele, die normalerweise nicht über die Ästhetik des Klanges in öffentlichen Räumen nachdenken würden, sich damit auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung wurde dadurch intensiviert, daß die sehr lebendige Präsenz des Geräusches in direktem Gegensatz zur visuellen Erfahrung stand, und daß die überdeckende Illusion (des natürlichen weißen Rauschens des Meers) psychoakustisch so stark war, daß man keine Chance hatte, durch einen Willensakt die Normalität wiederherzustellen.1

Auf dem Arc de Triomphe befindet sich eine Aussichtsplattform, die einen der schönsten Rundblicke auf die Stadtlandschaft von Paris bietet. Am Rande dieser Terrasse wurden Lautsprecher installiert, die live von 16 verschiedenen Orten in Paris, die man von diesem Aussichtspunkt aus sehen kann, Geräusche wiedergaben. Dieser Teil der "Klanginsel" hieß "Akustische Ansichten von Paris" und realisierte die Idee "hören soweit man sehen kann" in einem akustischen Live-Porträt der Stadt. In unserer normalen Erfahrung von Geräuschen können wir immer sehr viel weiter sehen als wir hören können. Hören soweit man sehen kann, bietet eine faszinierende Möglichkeit, einen örtlichen Bezug zu den Geräuschen herzustellen. Hören soweit man sehen kann, deutet auch die Möglichkeit an, weiter zu hören als man sehen kann, soweit die Vorstellungskraft reicht. Normalerweise erfahren die Besucher die Stadtlandschaft vom Arc de Triomphe aus rein visuell, sie betrachten die vielen herausragenden architektonischen Elemente von Paris. Die Klangskulptur ließ sie Stadt als Klanglandschaft wahrnehmen und raffte so die Entfernungen des sichtbaren Panoramas in Eindrücke akustischer Unmittelbarkeit, die über die physischen Grenzen der Terrasse hinaus reichten.


1.) Ich hoffe, daß nach der Erfahrung eines Kunstwerks dieser Art das akustische Gefühl für Normalität soweit gestört ist, daß es nie mehr so sein wird wie zuvor.

[TOP]