HEIDI GRUNDMANN
VORWORT



"Ob es uns gefällt oder nicht, digitale Systeme haben die Art, wie wir Klänge - und alle anderen Daten - definieren, wahrnehmen und bearbeiten, revolutioniert. Da der Prozeß der Digitalisierung selbst für das sofortige Abspielen und/oder Senden nichts anderes ist als ein Aufzeichnungs/Wiedergabe-vorgang, der u.a. eine elektronische Manipulation (durch Sampler etc.) ermöglicht, müssen Begriffe wie "Echtzeit" und "Live" genauso neu überdacht werden wie die Begriffe "Autor", "Original", "Rezipient", "Werk", "Raum" usw. Was z.B. in einer Performance aufgezeichnet und sofort in Echtzeit oder Live weitergegeben wird, wird sofort jedem anderen aufgezeichneten und gespeicherten Material gleichgestellt und kann mit (aufgezeichnetem/gesampeltem) Material aus verschiedensten Zeiten und Orten gemischt werden. In den digitalen Archiven unseres Zeitalters wird alles Aufgezeichnete zeitlos, ortlos und alterslos. Die Belebung von einmal gespeichertem Material in einer Sendung, Aufführung oder Installation versetzt alle verwendeten Fragmente - gleichgültig, von welchem Ort und aus welcher Zeit sie stammen, - in dieselbe "Gegenwart": sie werden zeitgleich. Der Titel ZEITGLEICH wurde z.B. aber auch deshalb für diese Veranstaltung und die mit ihr in Zusammenhang stehende Ausstellung gewählt, weil er sich auf das praktische Problem von mehreren Installationen in einem (physischen) Raum oder auf die Frage der Simultaneität der Rezeption von gesendeten Arbeiten durch die Hörer/SeherInnen bezieht. Diese und viele andere Themen, die für KünstlerInnen und KomponistInnen, die heute im Bereich von Klangkompositon und/oder Medienkompositionen arbeiten, und die Rezeption und Interpretation ihrer Arbeit relevant sind, stehen im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe ZEITGLEICH" (Aus der Broschüre ZEITGLEICH, die Ende April 1994 als Einladung zum und Information über das gleichnamige Symposium und alle folgenden Teile des Projektes ZEITGLEICH erschienen ist.)

ZEITGLEICH ist und war der Titel eines vielteiligen Großprojektes, das in verschiedene Unterkapitel zerfiel bzw. zerfällt:
ZEITGLEICH - Das Symposium,
ZEITGLEICH - Das Seminar,
ZEITGLEICH - Die Ausstellung,
ZEITGLEICH - Der Wettbewerb (Klanginstallationen, Universität Innsbruck 1995/96)
ZEITGLEICH - Das Bildhauersymposium (mit eigenem Katalog),
ZEITGLEICH - Der (vorliegende) Katalog,
ZEITGLEICH - Die CD,
ZEITGLEICH - Die Radioprojekte - und schließlich
ZEITGLEICH - Online.

An ZEITGLEICH ist eine noch nicht genau bezifferbare Anzahl von KünstlerInnen/KomponistInnen, KritikerInnen, TheoretikerInnen, Technikern, FotografInnen, OrganisatorInnen in immer wieder wechselnder Konstellation beteiligt.

Der vorliegende Katalog ist also nicht der Endpunkt des Gesamt-projektes, sondern eine Station in diesem.


ZEITGLEICH - Das Symposium

Der Katalog dokumentiert ein Symposium, das auf Anregung der Musikkuratoren des Bundesministers für Unterricht und Kunst, Lothar Knessl und Christian Scheib, Anfang Juni 1994 im ORF Landesstudio Tirol in Innsbruck stattgefunden hat, und bei dem international profilierte KünsterInnen/KomponistInnen verschiedener Generationen in dicht aufeinanderfolgenden Vorträgen bzw. Performance/Lectures und Lecture/Performances anhand ihrer eigenen Praxis ihre höchst unterschiedlichen Standpunkte zum Thema "Klanginstallation und Medienkomposition im digitalen Zeitalter" darstellten. Medienkomposition wurde hier nicht als Komposition für Radio, TV, Film verstanden, - also z.B. Kennmelodien, Hörspiel- bzw. Filmmusik, Werbung etc. - sondern als "Composing the Radio" (Klaus Schöning). Bei "ZEITGLEICH" wurde zudem versucht, dieses "Composing the Radio" auf die heutige und unmittelbar bevorstehende vernetzte Landschaft der Kommunikationstechnologien hin zu aktualisieren, in der das Radio zu einem Teilmedium geworden ist. "Wenn Cage recht hat, und die moderne Musik, oder wie er sagt: die Kunst des 'organizing sounds', ihr Material aus der Entropie der Kanäle ziehen muß, dann dürfen wir uns den um sich greifenden Entropiegewinnen der realen Vernetzungen nicht entziehen. Gerade die Kunst muß sich, so heillos das klingt, in die neuen Kanäle hineinzwängen und sie sozusagen an ihrer technischen Wurzel packen. Sie muß mit den Kanälen spielen und nicht in ihnen." (Wolfgang Hagen)

Es kam bei dem sehr streng strukturierten zweitägigen Sym-posium - und kommt in diesem Katalog - nicht darauf an, allgemein verbindliche Definitionen zum Thema "Klanginstallation und Medienkomposition im digitalen Zeitalter" zu liefern, sondern vielmehr darum, möglichst präzise Annäherungen an die große, sich aus unterschiedlichen Traditionen speisende - oder diese zurückweisende - Vielfalt der zeitgenössischen künstlerischen Praxis und der sich aus dieser Praxis ergebenden Theorien zu finden.


ZEITGLEICH - Das Seminar

Der allergrößte Teil der Vortragenden konnte sich nicht nur für das Symposium selbst, sondern auch für das anschließende Seminar freimachen: Es gab also nicht die Figur des anreisenden und - nach Abliefern seines womöglich schon gedruckten Vortrages - sofort wieder abreisenden Referenten, sondern nur auch an den Ideen der anderen interessierte und zur Auseinan-dersetzung bereite Teilnehmer. Zu diesen zählten auch an die 30 mit Hilfe kleiner Stipendien eingeladene KomponistInnen, KünstlerInnen, KulturvermittlerInnen und OrganisatorInnen aus Österreich, Deutschland und Italien.

In einem Gasthof in Mutters bei Innsbruck traten alle - Referent-Innen und StipendiatInnen - zwei Tage lang in intensivste Diskussionen und Dialoge ein in kleinen und großen Gruppen, beim Spazierengehen, Schwimmen, beim Essen und Trinken. Das Seminar ist in diesem Katalog und auch sonst nirgendwo dokumentiert. Es gab für diesen Teil des Projektes ZEITGLEICH - außer dem Generalthema - keine thematischen oder organisatorischen Vorgaben, keine Aufgabe, die erfüllt werden mußte. Es gab kein Publikum, alle waren Beteiligte. Daß dieses Seminar für die TeilnehmerInnen sehr fruchtbar wurde, war nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, daß bewußt darauf verzichtet wurde, Mikrofone aufzustellen und so die Diskussionen doch noch, wenn auch zeitversetzt, an eine Öffentlichkeit zu tragen, etwa in dieser Publikation. Die Diskussionen sind also für alle, die nicht dabei waren, unwiederbringlich verloren. Für die, die dabei waren, werden sie lange nachwirken. Durch die guten Erfahrungen mit vorangegangenen klausurartigen Kunst-gesprächen ohne Publikum bestärkt, war der veranstaltende Verein TRANSIT der Überzeugung, daß ein persönlicher Dialog zwischen Vertretern verschiedener Generationen, Sparten, Theorien, Erfahrungen, Traditionen in dieser alles an die Öffentlichkeit zerrenden Gesellschaft möglich sein muß, ganz einfach deshalb, weil er durch nichts ersetzt werden kann.


ZEITGLEICH - Die Ausstellung

Die Ausstellung fand im Sommer 1994 im ehemaligen Salz-magazin in Hall in Tirol statt, das als Kunsthalle zur Diskussion steht. Das Salzmagazin steht seit der Schließung des Salzbergwerkes im Halltal in den 60er Jahren verlassen: eine Ruine des industriellen Zeitalters. Gerade in seiner Desolatheit und Ferne vom etablierten Kunstbetrieb war das Salzmagazin eine mit großem Ernst angenommene Herausforderung für die KünstlerInnen, die - mit sehr kurzer Vorlaufzeit und engem finanziellen Rahmen - zur Erarbeitung von Installationen in dem Gebäude aufgefordert wurden. Eingeladen waren KünstlerInnen - unter ihnen einige der ReferentInnen des Symposiums ZEITGLEICH - aus unterschiedlichen Generationen und mit unterschiedlicher geographischer und künstlerischer Herkunft. Eines allerdings hatten alle gemeinsam: sie haben immer wieder mit anderen KünstlerInnen und/oder TechnikerInnen zusammengearbeitet, und sie wissen, daß Kunst - wie alles andere - heute nicht mehr in abgeschotteten Räumen stattfindet, sondern in solchen, die nach außen hin offen sind, was bedeutet, daß Informationen, Interferenzen aller Art in diese Räume eindringen und andererseits auch Informationen ausgesendet werden können - via Telefon, E-Mail, FAX, Radio, TV, z.B. aber auch ganz einfach als Lärm, Licht usw. Jede/r KünstlerIn wußte also, daß in "seinen"/"ihren" - übrigens frei gewählten - Installations-bereich im Salzmagazin Klänge und Licht eindringen würden, aus anderen Teilen des Gebäudes aber auch von außen - der naheliegenden Bundesstraße oder dem Autobahnzubringer. Auch die Arbeitsgeräusche der Steinbildhauer, die in letzter Minute auf der dem Salzmagazin benachbarten Wiese angesiedelt wurden, wurden von den KünstlerInnen der Ausstellung durchaus als selbstverständlicher Teil des Ambientes, ja als Teil-Inhalt ihrer jeweiligen Arbeit akzeptiert. Umgekehrt integrierten einige KünstlerInnen von anderen Orten übertragene Live-Klänge (Andres Bosshard, Bill Fontana) oder das alltägliche Radioprogramm (Helmut Mark) in ihre Arbeiten oder sendeten Klänge aus der Ausstellung (Bosshard, Loibner, Fontana). Teil der Ausstellung war also auch ein Radiosender in Gestalt einer Reportagefrequenz des ORF, die in einem Umkreis von einigen Kilometern zu empfangen war. Gesendet wurden, neben sehr kurzen Botschaften ins All von Andres Bosshard, vier bis fünf Mal pro Tag Jingles von Bernhard Loibner und Kurztexte über die Ausstellung in türkischer, serbischer, kroatischer und slowenischer Sprache. Sonst war der Ausstellungssender rund um die Uhr meditatives Radio der ganz anderen Art, strahlte er doch jenen Live-Klang aus, den ein in einem ausgehöhlten Baum-stamm - einem Stück der alten Soleleitung - verstecktes Mikrofon im Halltal für die Installation von Bill Fontana einfing.

Die Ausstellung ZEITGLEICH wurde so zu einer Gemeinschafts-komposition aus offenen aber trotzdem präzise auf den Kontext aus miteinander vernetzten Räumen und Zeiten bezogenen Arbeiten. Und sie reichte weit über das Salzmagazin hinaus - bis hinein in das Internet (Gerfried Stocker/Horst Hörtner) - und war doch in dem Gebäude verankert.

Das Publikum aus allen Altersschichten und Bevölkerungskreisen kam ohne Schwellenangst, oft mehrmals, immer wieder neue Freunde, andere Familienmitglieder mitbringend. Künstler-Texte und durch aktuelle Fotos aus der Ausstellung ergänzte Abbildungen einer zweisprachigen Broschüre, die in der Ausstellung frei abgegeben wurde und längst vergriffen ist, sind in diesem Katalog enthalten. Sodomka/Breindl/Math und Gerfried Stocker haben ihre Broschüren-Texte für diesen Katalog erweitert. Die Kunstkritikerin Renate Puvogel hat zu diesem Katalog einen sehr sensiblen und anschaulichen Rundgang durch die Ausstellung ZEITGLEICH beigesteuert. Heimo Ranzenbacher hat seine zunächst in einer Rezension in der SteirerKrone getroffene - und, wie ich glaube, sehr wichtige und anregende - Differenzierung zwischen opaker und transparenter Kunst für diesen Band weiter ausgeführt.

Die Ausstellung ZEITGLEICH war eine exemplarische Demon-stration der Tatsache, daß KünstlerInnen in diesem Bereich mit Technikern aller Art zusammenarbeiten müssen, so weit manchmal, daß der Techniker zum Ko-Autor wird. Stellvertretend für alle anderen beteiligten Techniker hat Gerhard Wieser einen Beitrag zu diesem Katalog verfaßt. Ich möchte an dieser Stelle Hans Soukup, Andreas Unterpertinger, Gerhard Wieser und ihren Mitarbeitern für den Auf- und Abbau sowie für die Ausstellungsbetreuung danken, an der die beiden Komponisten Rupert Huber und Gerhard Mittermayer wesentlich mitgearbeitet haben. Rupert Huber hat aus seinen intensiven Ausstellungs-Eindrücken einen kurzen hier abgedruckten Text sowie zwei Radiokompositionen geschaffen, die als Teil der zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht abgeschlossenen Reihe "ZEITGLEICH - Die Radioarbeiten" im ORF Kunstradio gesendet worden sind.

Anders als "ZEITGLEICH - Das Bildhauersymposium", dessen handfeste Resultate in der Zwischenzeit in der Stadt Hall aufgestellt worden sind, ist das Live-Erlebnis der Ausstellung ZEITGLEICH im Salzmagazin unwiederbringlich in die Erin-nerung der KünstlerInnen und BesucherInnen eingegangen übrig geblieben ist zumindest vorläufig die Arbeit von Lawrence Weiner; doch auch sie verweist auf die Erinnerung an diese erste künstlerische Manifestation, die auf das Potential des vernachlässigten Industriebaus als Schauplatz und Gegenstand einer Kunst hinwies, die erkannt hat, daß Perspektive heute mindestens so sehr in die Tiefe der Zeit wie in die des Raumes hineinreicht.

Gerade eine Ausstellung wie ZEITGLEICH, die von einer Sekunde zur anderen eingeschaltet, also zum Leben erweckt bzw. ausgeschaltet und zum Verschwinden gebracht werden kann, und die sich bei jedem Besuch anders darbietet, weil ihre Elemente sich immer wieder zu anderen Konstellationen zusammenfügen oder auseinanderstreben, läßt sich nicht adäquat dokumentieren, schon gar nicht im traditionellen Printmedium Katalog. Die gleichzeitig mit diesem Katalog erscheinende CD-ROM vermittelt zumindest einen Eindruck von den akustischen und visuellen Dimensionen der Installationen.

Die bisher realisierten Teile des Projektes ZEITGLEICH sind ein nachdrücklicher Beweis für die Tragfähigkeit des Modells TRANSIT, eines Vereins, der die Praxis und Theorie einer flüchtigen, nicht marktorientierten Kunst in der zeitgenössischen Landschaft der Kommunikationsmedien ermöglichen will, u.a. durch die Kombination von Geldern der öffentlichen Hand mit dem Know How und den Produktionsmitteln und Übertragungs-möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und aus der Überzeugung heraus, daß es für unsere Kultur alles andere als unwichtig ist, daß sich auch Künstler-Innen mit den sogenannten Neuen Medien und den Auswirkungen der Digitalisierung auf diese Kultur auseinandersetzen.

Herzlicher Dank an alle Beteiligten, an die KünstlerInnen, TheoretikerInnen, Techniker, OrganisatorInnen, an das Stadtbauamt Hall in Tirol, an die Sponsoren und Subventions-geber, insbesondere die Musikkuratoren Lothar Knessl und Christian Scheib, die weit mehr als Distributoren öffentlicher Gelder sind.


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