HEIMO RANZENBACHER

EFFEKTE DER TRANSPARENZ




Im Kippen einer materiellen Kultur in eine der Immaterialien werden der Dinge immer weniger, die sind, wie sie den An-schein zu sein haben. Im Substitut des Artefakts, dem artifiziellen Zustand, zerbricht, was als reales Gefüge immerhin noch Halt gab. Die Art, wie es in Brüche geht, ist kaleidoskopisch, ungefüge; und was ein Ding spiegelt, ist allenfalls noch der Bruch mit seinem Sinn, während es in Bedeutungen zerfällt. (Kann heute vom Hundertsten noch ernstlich geredet werden, ohne zugleich das Tausendste in Betracht zu ziehen?) Techno-logie ist der Träger dieses Zustands, in dem die Kategorien des bloß Visuellen zunehmend versagen. Nur das Bild des schönen Scheins ist opak.

Die Kunst als Referent eines visuell, taktil, materiell orientierten Kulturbegriffs ist davon weniger in ihrem spezifischen Diskurs als indirekt durch die philosophischen Implikationen des sozialen Wahrnehmungs- und Gestaltungsvermögens betroffen, etwa durch den Humanismus. Denn wenn aus dessen idealer Sicht der Mensch als Maß der Dinge galt, der den Dingen Sinn gab, dann weicht die sukzessive Verselbständigung der Dinge, ihre Entwicklung eines von den Menschen unabhängigen Eigensinns, den Humanismus-Begriff nicht nur auf. Er wird angesichts der Verschiebung der Position des Menschen in der Hierarchie der Bedeutungen - die Dinge haben schließlich ihm einen neuen "Sinn" zugewiesen - und durch das solcherart völlig auf den Kopf gestellte menschliche Selbstverständnis schlicht fragwürdig. Angesichts der eingebüßten Position des Sinnstifters ist auch die Autonomie der Kunst, die im humanistischen Ideal unabhängig von der kunsttheoretischen Inanspruchnahme dieser Qualität begründet war, nicht mehr aufrecht zu halten; sie ist somit an der Phänomenologie der Entwicklung des Eigen-sinns der Dinge zu bemessen. Und eine Kunst, die ohnehin nicht in den Kategorien gängiger Ästhetiken, sondern in kultureller Begriffsbildung resümiert, müßte auch in den kaleidoskopischen Phänomenen des kulturellen Wandels ihre Erscheinungsformen finden - und diese selbst dann, wenn aus dem technologischen Milieu erscheinende Formen keinen eigentlichen Autor mehr haben, als ästhetische erkennen. Besonders, wenn sich die Dinge auch ihrer Ästhetisierung durch das Subjekt entziehen und so einen Ästhetik-Begriff erforderlich machen, der in der intersubjektiven Überprüfbarkeit seine phänomenologische (nicht kunsttheoretische) Rechtfertigung erhält. Der Unterschied zwischen einer materiellen Kunst, deren Eigenschaft das Opake ist, und einer der Immaterialien entspricht dem Unterschied zwischen dem alltäglichen Gebrauch des Wortes Ästhetik (im Sinne von schön) und dessen Definition durch Alexander Gottlieb Baumgarten, in der "Schönheit" nicht primär Gegenständen zugesprochen wird, sondern sich auf die Art und Weise der Erkennbarkeit bezieht: etwas kann "in schöner Weise erkannt" werden.

In diesem Zustand des Kippens sind die Bedingungen und Konsequenzen, die dem Kunstwerk aus der apparativen Prädikation der Ära bzw. Kultur seines Erscheinens erwachsen, unerheblich gegenüber der Frage nach Techniken zur (in Baumgartens Sinne) ästhetischen Repräsentanz ihrer Ära. Dabei geht es nicht darum, quasi auf der Höhe der Zeit mit deren Mitteln/Instrumenten ein Werk zu erzeugen (im Zeitalter des Fernsehens Fernseher als Symbol skulptural zu verwenden; das Werk ist zunehmend als Ausdruck der Nöte der Kunst ohne Tugend zu sehen), sondern in der Zeit diese zur Darstellung ihrer selbst gerinnen zu lassen. So ist wohl auch der Titel "Zeitgleich" zu verstehen.

In der Folge vollzieht sich ein Wandel der künstlerischen Praxis von der aus der Kunst auf ihre apparative Prädikation, die Technik orientierten zu der aus der Technik auf die Kultur orientierten; auf das Interpretatorische folgt das Operative. Diese Praxis hat nicht nur die Beherrschung neuer Kulturtechniken zur Bedingung, sondern auch, daß über die Bedeutung der Codes, derer man sich bedient, Klarheit herrscht. Kulturelle Begriffsbil-dung heißt heute implizit auch Klarheit über die Bedeutung der technischen Codes zu schaffen, in der sich Kultur beschreibt, digital, informationell, massenmedial etc.

Technik ist zwar der Träger dieses Zustands, doch ihm in ihrer Bedeutung selbst unterworfen. Nicht erst das digitale Format hat die Bedeutung analoger Formen (im Sinne der "Identität" von Motiv und Abbild) obsolet werden lassen (damit auch die Funktion des Symbolischen). Aber während das analoge Format der Darstellung beispielsweise einer Hand, deren Finger sich in der Taubstummensprache bewegen, noch als Code (eine Art und Weise, Erfahrung zu formalisieren) durchgehen mochte, den Körper (symbolisch) in das Bildmedium Video einzuschreiben, so ist die digitale Codierung dieses Unterfangens nur mehr grober Unfug, da das Programm des Bildes nicht mehr notwendig als Bild erscheinen muß (also auch nicht mehr aus-schließlich als Hand interpretiert werden muß; das technische Wissen der Zeit fordert den Zeitgenossen geradezu auf, es nicht zu tun, und von einer blauäugigen Betrachtung abzusehen. Deshalb sind die Computer-Animationen gewöhnlich Kitsch, weniger wegen der Bilder, die sind es nur auch.) Es könnte ebensogut Befehl für den Start einer Rakete oder Musik sein. Die Bilder, Logos und Zeichen sind transparent geworden. Sie verlieren an Schärfe, dafür vermehren sich ihre Bedeutungen proliferativ.

Das Opake ist in diesem Zusammenhang eine Eigenschaft, das Erkenntnisvermögen zu beeinträchtigen - eine ästhetische Mangelerscheinung; oder, indem es den Blick auf sich konzentriert, ein ästhetisches Ablenkungsmanöver. Transparenz benennt den Zustand, in dem die fortwährende, gleichsam fraktale Aufsplitterung jedweden Halts für den Blick auch keine Möglichkeit mehr zu "verweilen", zur Kontemplation läßt - eine kulturelle Eigenschaft, keine politsche Absicht. Die, wenn man so will, Benutzer-Oberfläche unserer Kultur ist kaleidoskopisch, ihr Programm hypertextuell. Kulturelle Ästhetik ist transparent. Eine Eigenschaft von Transparenz ist jedoch, daß sie nur durch ihre Effekte wahrgenommen werden kann. So wird kulturelle Ästhetik im Ungefügen konkret; Kunst heißt dann, kulturelle Effekte hervorzurufen.

In der Ausstellung "Zeitgleich" kamen vornehmlich Klang und akustische Informationen als Gestaltungsmittel zum Einsatz; die visuelle Komponente war marginal, auf wenige Apparate be-schränkt. Aber daß den Ohren mehr als den Augen zu trauen sei, wollte damit natürlich nicht gesagt werden.

Kunst als Kulturtechnik wurde als ein - den Bedingungen der Informationsmoderne analoger - Vorgang in Echtzeit verstanden. Dessen akustischer (und visueller) Ausdruck bezog sich gleichermaßen auf die Mittel und den konstitutiven Prozeß - oft mit der Absicht, ästhetische "Interferenzen" (Jerez/Iges) in der Wahrnehmung der technologischen Strukturen der Kommuni-kationskultur hervorzurufen. Keinesfalls verwies er - wie zuweilen in der Tradition überkommener Rezeptionsmuster gedacht wird - auf sich als ästhetisches Produkt; daß etwa das Säuseln des Windes "schön" sei. Der Unterschied zur herkömmlichen Kunst ist die kulturstiftende Bedeutung der Mittel und der Umstand, daß vornehmlich diese thematisiert werden. Ein (Tafel-)Bild konnte zwar auf das Werkzeug und den Akt seines Entstehens verweisen, doch Pinsel, Farbe und die Verfassung des Malers, aus der heraus er agierte, waren zivilisatorisch irrelevant.

Das Verständnis von "Zeitgleich" zeitigte speziell für die Art der Präsentation Konsequenzen. Es besteht kein unbedingter Bedarf mehr nach Grenzen zwischen den einzelnen Arbeiten. Klang-Installationen greifen ineinander, ohne daß die Effekte als Störfelder interpretiert werden müßten - im Gegenteil. Gerade dadurch geriet das als Ausstellung, also auch optisch, zumindest auf den Eindruck der Halle hin angelegte Unterfangen zum Projekt, welches das Versagen des Visuellen nicht bloß im Verzicht auf das Opake, sondern akustisch thematisierte. Weniger in Form einschlägiger Arbeiten, als vielmehr dort, wo das künstlerische Konzept für die Rezeption die Wahrnehmung der Arbeiten der Künstler selbst splitterte; wo sich etwa die regionalen Geräusche und Kommentare zu erlebter Geschichte einer interaktiven Installation mit Meeresrauschen und dem live in die Halle übertragenen Säuseln des Windes in einem Salzstollen einer anderen Installation verschränkten; und dies wieder mit den Ausläufern einer Klangspirale, die sich aus der Halle und via ORF in den Weltraum hinausdrehte.

Im "Rauschen" der akustischen Überlagerungen wurde die Ausstellung ihrem Anspruch, auch Austellung ihrer Zeit zu sein, gerecht. Die Installationen, akustischen Oberflächen, entwickelten über ihre konzeptionellen Verzweigungen hinaus einen Eigensinn, sie wurden transparent, durchlässig für andere Infor-mationen. Nicht nur als Verweis durch sich als akustisches Geschehen und Offenlegung ihrer technischen Herkunft auf das Gemeinte funktionierten sie, sondern in der Wirkung dieser ihrer Inhalte auf die jeweils anderen.

Der Verzicht auf das (opake) Werk zugunsten des (transparenten) Geschehens hat den Verzicht auf eine egozentrische Ästhetik zufolge und resümiert in einem eigenen inhaltlichen Aspekt.


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