CHRISTIAN SCHEIB
DON'T CHEAT
Zur Ästhetik TRANSITorisch zeitgleicher Kunst in Innsbruck



Eine Begegnung zwischen Alvin Lucier und Friedrich Kittler fand in Innsbruck nie statt, nur als TRANSITorisch fiktives Ereignis über die Jahre hin ist sie real. Der Reflexion über Beider Künste bleibt daher genügend Fiktionen schaffender Raum. Der Signal-Rausch-Abstand und sein - mittlerweile bekanntermaßen ins Reale herüberrechenbares - Verhältnis zu Jakobsons "poetischer Funktion" oder Cages Autonomisierung sowohl der Wahrnehmung als auch verschiedenartigsten (akustischen) Materials gibt das Bezugsnetz für die in Innsbruck zeitgleich reflektierten und realisierten künstlerischen Projekte (nicht nur) im elektronischen Raum.

Das Ineinanderfallen von Rauschen und Signal, seit spätestens Mitte dieses Jahrhunderts berechnend zu vielerlei Zwecken erforscht, findet Friedrich Kittler in Anfang und Ende von Richard Wagners Ring-Tetralogie vorweg ausgeführt und findet damit auch - vielleicht nicht ausgeführt, aber ausformuliert - das Ende der europäischen Kunst. Woran sich Kunstwerke, die aus Klang gedacht sind, von Marcel Duchamps unhör-barem Schachtelgeräusch über John Cages hörbares Nicht-Geräusch zu Alvin Luciers Gehirnwellengeräusch auch zu halten scheinen. Mit Hilfe des Maximalwertes 1 für das für Information stehende Zeichen H in Claude E. Shannons Formel legt Friedrich Kittler dar, "daß das Maximum an Information nichts anderes besagt als höchste Unwahrschein-lichkeit" und dadurch aber "vom Maximum an Störung kaum mehr zu unterscheiden ist". Unterscheidbar aber eben doch, wenn auch (vorerst?, vermeintlich?) kaum noch: Zeitgleiche Kunst gewinnt genau daraus ihre Sprengkraft, daß sie den alten Holzkeil so im Gestein des Rauschens plaziert, daß die Funktion der schließlich sprengenden Nässe nicht mehr vom seit Wagner sich ausfadenden Künstler übernommen werden muß, sondern von der vom Kunstwerk selbst erzeugten Versuchsanordnung.

In diesem Band findet sich die von Alvin Lucier erzählte Geschichte der Aufnahme von "Music on a Long Thin Wire". Die Eigenrüge "Don't cheat" ist der verbalisierte Kern dieser Ästhetik von Versuchsanordnungen. Die Materie der Kom-munikation und die von ihr selbst im Namen der Kunst erzeugte Differenz zum als Gegeben Erwarteten verwandelt sich in Kunst. Mit einem Stück Draht gelingt es, Element und Operation von einander zu trennen, oder, wie Friedrich Kittler für die reale Unerbittlichkeit digitalen Abtastens sowie für zwei von Thomas Pynchons Helden postuliert, die "eigenen Grenzen zu unterlaufen und Elemente der Kommunikation von ihren Operationen zu scheiden".

Das Pendant zum maximalen Rausch- und damit Informations-wert - also zu einem minimalen Rausch-Signal-Abstand - findet in Roman Jakobsons "poetischer Funktion" der Sprache seine gedachte Vorwegnahme. Wenn in der "Einstellung auf die Nachricht als solche", in der "Komposition des Sprach-zeichens" selbst - in der Formulierung von Jakobsons Kollegen Mukarovsky - die Nachricht zu finden ist, springt der Koeffi-zient für den Signal-Rausch-Abstand auf sein Maximum. Um als Kunst vor der Banalität ahistorischer Bewußtlosigkeit gefeit zu sein und auch um im jeweils verwendeten Medium nicht dem Klischee der Gesten eines vielleicht benachbarten Mediums auf den Frequenz-Leim zu gehen, - im Falle einer auch klingenden Kunst also beispielsweise der Geschichte des Umgangs mit der unbarmherzigen Tatsache des Verklingens -, ist gerade die Konzentration auf die "poetische Funktion" vonnöten, genauer auf die durch diese Konzentration möglich werdende Genauigkeit. Die ästhetische Kategorie der - nochmals nach Jakobson - "unmittelbaren Erfahrbarkeit der Zeichen" ist das Werkzeug, mit dem sich Musik, in der kein Ton und kein Muster auf etwas anderes als auf sich und sein Verhältnis zum decodierbaren Rauschen verweist, zur Kunst macht. Nach Richard Wagners Requiem für die expressive Sprachähnlichkeit der Musik ist eine Schachtel, ein Nichts, ein Stück Draht, eine Radiowelle deswegen kunstfähig geworden, weil die aufgekündigte Ehe von Element und Operation sich wiederfindet in der geschlossenen Liaison von Rauschen und Signal, wahrnehmbar auf Grund der Distinktionsfähigkeit, mit der die ästhetische Kategorie der "poetischen Funktion" der Kunst zu dem für alles andere als Kunst Zwecklosen, also zu sich selbst, verhilft.

Kunst mit Draht und Radiowellen - als Chiffre für "zeitgleiche" Kunst im (nicht nur) elektronischen Raum - muß also um nichts weniger als das Maximum an Rauschen als Information kurzschließen mit dem Maximum an Signal-Rausch-Abstand. Gelingt es nicht, Shannons Formel so mit Werten zu füttern, daß das Zeichen H zeitgleich die Werte 0 und 1 annimmt, dämmert der Kunst die nächste Götterdämmerung.

Vorerst aber besteht die Aussicht - und das möge nicht nur als interzeptiv polemische Übersetzung der TRANSIT-Definition "zur Förderung und Realisierung künstlerischer Projekte im elektronischen Raum" verstanden sein -, daß sich diese Kunst doch noch erst im Rheingold-Vorspiel bewegt. "Im Grunde lächelt der Himmel" beispielsweise in selbstreflexiven Ton-Zeitschleifen, die nicht mehr und nicht weniger als Kunst betreiben, als die digital mögliche Manipulation am Realen. Irgendwann fällt einer in das Sekundenloch, das ein Radio-signal zum Mond und wieder zurück braucht. Und in dem von Friedrich Kittler - nachdem "das Joch der Subjektivität von unseren Schultern genommen" ist - entdeckten Freiraum, in dem "Hermeneutik mit Polemik" und "Rezeptionstheorie mit Interzeptionspraxis" vertauschbar sind, bewegt sich Alvin Lucier, wenn er stillsitzend seine Gehirnwellen Pauke spielen läßt. "Die auf die Ordnung folgenden Geräusche bedeuten nicht notwendig den Tod der Kunst, noch den Tod einer Kunst", schrieb Daniel Charles 1982. "Am Ende ihrer Bedeu-tungsmöglichkeiten angekommen, ... ist nichts beendet, alles ist unbestimmt: alles beginnt jeden Tag neu."


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