Das
Kunstradio richtet die Ohren im Sommer 2011 gen Kanada. Die
Künstlerin Anna Friz, die seit Anfang der 1990er Jahre mit
Radio
arbeitet und auch an einigen Kunstradio-Projekten mitgewirkt hat, hat
für die heutige Sendung einen Überblick über
aktuelle
kanadische Radiokunst zusammengestellt. Dazu schreibt sie:
„Es
wäre sinnlos, endgültige Behauptungen über
zeitgenössische kanadische Radiokunst anzustellen, aber man
kann
sagen, dass Radiokunst in Kanada meistens über
unabhängige
oder improvisierte Radiowellen gesendet wird. Das öffentliche
Radio bietet kaum Nischen für freien, künstlerischen
Ausdruck, jedoch lässt eine lebendige Campus- und
Community-Radio-Szene (also unabhängige, nicht-kommerzielle,
hörerunterstützte, ehrenamtlich programmiertes Radio)
Raum
für allerhand Spielereien im Studio, spätnachts oder
mitten
am Tag. Unabhängige Stationen in Montreal, Kingston, Winnipeg,
Vancouver und in anderen Städten nehmen
regelmäßig am
Netzwerk-Fest Art’s Birthday und am Eternal Network teil, oft
in
Kooperation mit Künstler-Organisationen, und liefern
etablierten
und weniger bekannten Künstlern fruchtbaren Boden für
Experimente.
Viele der Künstler in
dieser
Überblickssendung haben lange in unabhängigen
Radiostationen
gearbeitet und interessante Sounds hergestellt – mit der
Ausnahme
von s*, der erst kürzlich auf diesem Planeten gelandet,
allerdings
wurde er durch einen Meteoritenschauer auf die Erde gezogen,
überrascht von der Streuung von Radiosignalen. Zwei der
Arbeiten entstanden live on air, während die anderen sich aus
der
körperlichen Erfahrung der Radiophonie speisen.
Elektrizität
wird kanalisiert, Körper angetroffen, Stimmen
ertönen.
Radiophonie als Metapher.“
(Anna Friz)
1) “Chaud a cold night in
2011” von Martine H. Crispo (2011)
Seit
1994 fungiert das Radioprogramm CHAUD POUR LE MONT-STONE auf CKUT FM in
Montreal als Sound-Labor, wo alles live geschieht. Es ist reines
Live-Radio, nichts verstecktes, alles ist möglich. Die
Radiomacherin Martine H. Crispo macht alleine oder mit geladenen
Gästen Jams, bei denen alles verwendet wird, was ihr in die
Hände kommt: analoge Geräte, digitale
Geräte,
selbstgebastelte Schaltkreise, aufgezeichnete Frequenzen und
Radiomikrofone. Für Hörer, denen Crispos Radiokunst
nicht
gefällt, bleibt ihre fabelhafte Stimme, mit der sie
öffentliche Durchsagen verliest.
Das
Stück ist ein Live-Jam mit Sounds mit kurzgeschlossenem
Spielzeug, Fotodioden und Martine H. Crispo’s laptop.
2) “RadioRoam” von
Stephen Kelly und Eleanor King (2007)
“Radio
Roam” ist eine Radioübertragungsarbeit. Sie
verwendet auf
verschiedene FM-Frequenzen eingestellte Radiogeräte in einem
Galerieraum. Das Audiosignal springt von einem Radio zum
nächsten,
wodurch für den Galeriebesucher ein Mehrkanal-Klangeindruck
entsteht. Beabsichtigt ist, dass die gesendeten Klänge sich
überlagern und in kräftige FM Sendungen
überlaufen,
sodass in Echtzeit eine sich ständig verändernde
Collage von
Radiogeräuschen entsteht.
Stephen Kelly hat
die
“roaming” Sendung konzipiert und eine Schaltung
gebaut, die
automatisch die Sendefrequenz des Senders verändert. Mittels
eines
Bewegungsdetektors löst Aktivität im Galerieraum die
Schaltung aus, die nach Zufallsprinzip einen neuen Punkt auf der Skala
auswählt.
Eleanor King hat das gesendete
Audiosignal
komponiert. Dafür hat sie ausschließlich Samples
ihrer
Stimme und von Geräuschen im Mund verwendet, die mit einer
digitalen drum machine repetitive und rhythmische Zyklen vokaler Sounds
generiert.
3) “Private Telephone
1981 (Compressed)“ von Andrea-Jane
Cornell (2011)
“Als
ich einen geschenkten, alten Schubladen-Sekretär reinigte,
fand
ich, unter einem der kleinen Fächer versteckt, eine Kassette.
Beschriftet war sie mit blauem Kugelschreiber: "Private", "telephone
1981" auf der A-Seite und "God!" auf der B-Seite.
Ursprünglich
habe ich den Inhalt der Kassette in einem Nachtprogram auf CKUT FM in
Montreal gesendet und mit verschiedener Musik gemischt. Da die Kassette
auf einem Magnet lag, als ich sie im Kasten fand, schnitt ich einiges
an Störungen und Rauschen heraus.
Die Gespräche vierer
Stimmen, die mit einem Telefonanrufbeantworter aufgenommen wurden,
haben etwas besonders tragisches an sich. Das erste Telefonat ist
zwischen einer jungen Frau und einem viel älteren Mann, der
ihr in
distanziertem, gefühllosen, abgeschlagenem Ton
erklärt,
„sicher im Bett“ zu sein. Das zweite
Gespräch ist
zwischen einer älteren Frau und einem
„Geschäfts“-Mann mittleren Alters und
dreht sich um
Anspielungen auf eine sexuelle Beziehung und ein misslungenes
Rendezvous. Seltsame Pausen, Gekicher und Seufzer bevölkern
ihren
Austausch, der darin mündet, dass die Frau von ihrem Kranksein
spricht. Dem Arzt habe sie gesagt, ihr Leichnam werde der
gesündeste im ganzen Leichenschauhaus sein. Kurz nach dieser
Aussage hört man des Geräusch des Telefonauflegens.
Auf dem
Rest der Kassette ist nur ein leerer, statischer Drone-Klang.
Ich
habe ‚Private Telephone 1981’ im Rahmen der zweiten
Ausgabe
des ‘Kleinen Field Recording Festivals’
aufgeführt,
mit Turntables, Delay-Pedalen, Field Recordings und einer Aufnahme von
Herzklopfen. Als gesamtes Stück habe ich es als Improvisation
im
Produktionsstudio von CKUT eingespielt. Die vorliegende Version ist
eine komprimierte des im Original 30 Minuten langen Stücks."
(Andrea-Jane Cornell)
4) “RUN” von
Tomas Phillips and s* (2011)
Im
Rahmen eines Projektes zur Erforschung huemaner Rhythmen in Stille und
Bewegung am Planeten Erde, werden in “RUN”
Schichten
stereophoner Aufnahmen überlagert. Die Aufnahmen sind vom
laufenden Körper von s*, während Tomas Phillips aus
der
Manipulation von Wellen abstrakte Klänge gewonnen hat. Eine
weitere Entwicklung des Projektes werden im Frühjahr 2012 auf
IO
SOUND veröffentlicht.
5) “The Bodhi
Tree” von Debashis Sinha
“The
Bodhi Tree” ist ein Hörstück über
Buddhas
Bemühungen Erleuchtung zu Erlangen. Es ist eine Rekonstruktion
seiner Erfahrung, als er unter dem Baum saß, über
seine
imaginierte Gedankenwelt zur ihn umgebenden Natur, zum Anblick seiner
Haut und zum Geräusch seines fließenden Blutes. Das
Stück ist eine Nacherzählung von Buddhas Weg,
gefiltert durch
Debashis Sinhas eigene Erfahrung als zwischen den Kulturen lebender
kanadischer Künstler. In der Wiedererzählung wird
Sinha zum
Vermittler, der sich in historische und mythische Sphären
schaltet
und seine eigene Erfahrung untermischt. Die Beschäftigung mit
seiner kulturellen Herkunft ist eines der leitenden Themen in Sinhas
künstlerischem Werk.
Credits: Sound
und Text: Debashis Sinha Stimme: Maxime Desmons
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