Abstract
Konzept Bereits in früheren Arbeiten von Eri Kassnel und Gerald Fiebig findet sich die Idee, dass ‚Utopie’ als Entwurf eines ‚ganz anderen’ Ortes, als Sehnsuchtsort bzw. Gegenentwurf, der die persönliche oder auch politische Gegenwart konterkariert, sich nicht nur aus der Zukunft, sondern auch aus der Vergangenheit speisen kann. In Arbeiten wie Rückkehr ins Paradies oder dem Work-in-progress Briefe nach Utopia thematisiert Kassnel beispielsweise die kreative Rolle der Imagination bei der Rekonstruktion vergangener Epochen. Häufig arbeitet sie dabei mit biographischen Versatzstücken aus dem Umfeld ihrer Familiengeschichte: Wie viele Familien aus der rumäniendeutschen Community der Banater Schwaben übersiedelten die Kassnels Ende der 1970er Jahre aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland. Ebenfalls ein biographischer Bezug, in diesem Fall zu einem der antifaschistischen Kämpfer im Wien des Februar 1934, bildet eines der Substrate für Fiebigs Radioarbeit 12.02.1934, die das ORF Kunstradio 2014 gesendet hat – eine von mehreren Arbeiten Fiebigs, die historische Epochen durch Klangmaterialien damit verbundener Orte (im Fall des genannten Stücks der Wiener Karl-Marx-Hof) evozieren. Vor diesem Hintergrund unternimmt die erste gemeinsame Arbeit der beiden Künstler_innen den Versuch, einen utopischen Ort aus der Überlagerung und Verflechtung von zwei realen Orten zu imaginieren, und zwar im Medium des Klangs. Aus Klängen der Stadt Timişoara und Klängen der Stadt Wien soll im Rahmen dieser radiophonen Komposition ein neuer, imaginärer Klangraum entstehen, der über die heute aktuelle Wirklichkeit hinausweist. Diese Wirklichkeit wird in politischer Hinsicht aktuell stark von einer ‚gefühlten Grenze’ zwischen Westeuropa und Osteuropa geprägt – Ressentiments gegen eine vermeintliche Überschwemmung des Arbeitsmarktes durch ‚Billigarbeiter’ aus Rumänien haben die politische Debatte in etlichen westeuropäischen Ländern seit der Öffnung des EU-Arbeitsmarktes Anfang 2014 geprägt. Das Stück setzt dagegen einen künstlerischen Gegenentwurf, der auf der Frage basiert: Was wäre, wenn West und Ost keine Gegensätze wären, sondern an einem utopischen Ort zusammenfallen würden? Wien und Timişoara drängen sich als Ausgangspunkte für eine solche Arbeit aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte förmlich auf. Die Geschichte des Banats seit Beginn des 18. Jahrhunderts zeigt schlaglichtartig auf, dass diese dualistische Trennung von Ost und West eine aus der Zeit des Kalten Krieges überkommene Vorstellung ist, der eine viel längere Phase des Zusammenlebens verschiedener Communities im habsburgischen Mitteleuropa voranging. Bei der realen Beendigung dieses Dualismus kam gerade Timişoara eine Schlüsselrolle zu, nahm hier doch im Dezember 1989 die rumänische Revolution ihren Ausgang, die zum Ende der Ceausescu-Diktatur führte. Wie die ‚persönlichen Utopien’ in den früheren autobiographisch geprägten Arbeiten von Kassnel und Fiebig wird also auch bei dieser politischen Utopie auf die Vergangenheit zurückgegriffen – eine Vergangenheit, die aufzeigt, was schon einmal möglich war, und was auf den in ihr angelegten Wegen noch möglich (gewesen) wäre. Die Wahlverwandtschaft der Städte beginnt schon damit, dass in Wien wesentliche politische Entscheidungen für die Entstehung der deutschen Community im Banat fielen, dessen Hauptstadt Timişoara ist. 1716 erobert Prinz Eugen die Stadt Temeswar von den Türken. Zur Neubesiedelung und Nutzbarmachung der von Kriegen entvölkerten Region wirbt die habsburgische Verwaltung Kolonisten aus unterschiedlichen deutschsprachigen Regionen an. Im Zuge der napoleonischen Kriege werden 1809 die kaiserlichen Reichsinsignien aus Wien nach Temeswar gebracht; nach dem Zerfall des Habsburgerreiches wurde das Banat 1920 zwischen Ungarn, Jugoslawien und Rumänien aufgeteilt, wobei letzteres den größten Teil erhielt.
Komposition G.-E. Debord: Theorie des Umherschweifens. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg: Edition Nautilus 1995, S. 64.
2. Transatlantic Free Trade
Diese Originalarbeit für das Kunstradio beschäftigt sich mit den umstrittenen Freihandelsabkommen, die derzeit zwischen der EU und den USA verhandelt werden. Bei Abschluss der Verträge drohen neben sozialen und ökologischen Problemen auch massive Einbußen in der kulturellen Vielfalt Europas, etwa durch Einschränkungen der Kunstförderung durch die öffentliche Hand. Die Arbeit thematisiert die zerstörerischen Wirkungen des vermeintlich „freien“ transatlantischen Handels anhand je eines US-amerikanischen und eines europäischen Klangartefakts. Beide werden zwischen jedem Abspielen immer wieder von einem Stereokanal zum anderen hin- und hergeschickt – symbolisch gesehen also von einer Seite des Atlantiks zur anderen. Bei den Artefakten handelt es sich um Zitate aus Popsongs, die zu ihrer Zeit „Exportschlager“ waren: aus dem Klassiker „Dancing in the Streets“ von Martha and the Vandellas, der auf dem in den 1960ern auch in Europa sehr populären amerikanischen Motown-Label erschien, und aus „Rock Me Amadeus“ von Falco, einer der ganz wenigen aus Europa stammenden Produktionen, die jemals die Nr. 1 der US-Hitliste erreichte. Dass der transatlantische Austausch auch eine Schattenseite haben kann, wenn er einseitig ausgestaltet wird, deutet die Arbeit durch eine klangliche Metapher an. Bei jedem Hin- und Hersenden der Musikfragmente verstummt ein kleines Stück davon. Durch diese „Löcher“ in der Musik dringt ein Rauschen, das sich im Lauf der Zeit immer deutlicher als Meeresrauschen herausstellt. Es handelt sich hier um das Geräusch des Atlantiks, aufgenommen auf den Azoren, also etwa auf halbem Weg zwischen Amerika und Europa. Die Arbeit bringt somit kulturelle – und dabei durchaus kommerzielle – Artefakte in ein Spannungsfeld mit der reinen Natur. Man kann dies als Anspielung darauf lesen, dass die aktuell diskutierten Freihandelsabkommen kommerzielle Interessen einzelner Unternehmen über die Vorsorge für das Dasein von Millionen von Menschen stellen.
3. Echoes of Industry
Aufgrund seiner nichtvisuellen Natur, seiner ‘körperlosen Stimme’, ist das Radio das ideale ‚Geister’-Medium, wenn es um die Darstellung des Verschwindens geht, den Übergang einstmals sichtbarer Dinge in einen Zustand, in dem sie halb anwesend und halb erinnert sind. Echoes of Industry unternimmt den Versuch, in akustischer Form die sozialen und architektonischen Verschiebungen zu thematisieren, die in europäischen Städten passieren, wenn bestimmte Industriezweige aufgegeben und ihre früheren Anlagen zu Museen, Kulturstätten oder schlicht Ruinen werden, während sich die Industrie selbst immer stärker digitalisiert. Zu diesem Zweck wurden die Klänge von Textilmaschinen aufgenommen – in einem Museum (http://www.timbayern.de/), das der Geschichte der einstmals pulsierenden Textilindustrie der Stadt Augsburg gewidmet ist. Sie bilden den ersten Teil des Stücks, wobei die Klänge verschiedener Maschinen übereinander gelegt wurden. Für den zweiten Teil des Stücks wurden Samples dieser Klänge im Rahmen einer Duo-Improvisation mit einem Saxofon in einem ehemaligen Gasometer in derselben Stadt wieder abgespielt. Dabei wurde das sehr ausgeprägte Echo in dieser 84 Meter hohen Metallkammer (http://www.gaswerk-augsburg.de/gasbehaelter_augsburg.html) genutzt. Die Aufnahme im Gasometer fand im Herbst 2014 statt, als der Tank die Installation The Secret Heart von Jaume Plensa beherbergte, eine riesige aufblasbare Skulptur in der Form eines menschlichen Herzens. Das Zischen der Pumpen, die der Skulptur Form gaben, wurde aus den Aufnahmen herausgefiltert. Nach Bearbeitung seiner Tonhöhe wurde es anschließend als eigenständiges kompositorisches Element eingesetzt, dessen Klang auf das Zischen von Gas und damit die ursprüngliche Nutzung des Tanks anspielt.
Solche Gasometer, viele davon inzwischen außer Betrieb, finden sich in zahlreichen europäischen Städten, von Oberhausen im Ruhrgebiet bis Ostrava in der Tschechischen Republik – weithin sichtbare Denkmäler einer industriellen Technologie, die nach und nach aufgegeben wird. Die Textilindustrie wiederum ist bereits so gut wie vollständig aus Europa verschwunden, nachdem diese Industrie die Erscheinung vieler Städte des Kontinents für mehr als ein Jahrhundert geprägt hatte. Die von Manchester ausgehende Industrialisierung der Textilproduktion war die Blaupause für die industrielle Revolution, und so wie Augsburg als bayerisches Manchester bezeichnet wurde, gab es auch ein sächsisches Manchester (Chemnitz), ein polnisches Manchester (Łódź) und ein russisches Manchester (Ivanovo).
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