Email-Interview mit Roland Etzin und Lasse-Marc Riek (Gruenrekorder), geführt von Anna Soucek im Oktober 2009

Wann und warum wurde Gruenrekorder gegründet?

Das Label wurde im Jahre 2003 von Roland Etzin und Lasse-Marc Riek in Frankfurt am Main gegründet.
Da wir beide seit Ende der 1990er Jahre mit Field Recordings arbeiten und die raren Umstände der Publikationen, Präsentationen von Geräusch zu jener Zeit nur zu gut erlebten, folgte die daraus resultierende Konsequenz, einen Audioverlag für Hörkunst ins Leben zu rufen um den Stellenwert, sowie die Öffentlichkeit von Phonography/Field Recording zu erweitern. Wir arbeiten auch mit Gast-Kuratoren, -Designern, und -Autoren zusammen um die eigenen Konzentrationen zu kontrastieren und neue Fügungen zu erleichtern. Unter diesem Aspekt werden wir seit 2004 von Tobias Schmitt, Daniel Knef, Hartmut Wirks, Dr. Costa Gröhn, Dr. Stefan Militzer und Dr. Angus Carlyle begleitet
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Gibt es Organisationen oder Labels die dabei als Vorbilder oder Orientierungshilfen dienen?

Das Genre und seine Äußerungen sind nach wie vor sehr übersichtlich, dennoch hatten wir unsere Impulse von Außen und diverse Vorbilder. Im Bereich der Labels waren es zum Beispiel Wergo (Naturaufnahmen von Walter Tilgner), Touch, em:t und Solitudes/Dan Gibson. Einflüsse über Produktionen von Bernie Krause, Walter Tilgner, Bill Fontana, und Ultra Red bis zu den Einstürzenden Neubauten, Moondog, Future Sound of London und Autechre sollten uns auch auf ästhetischen Wegen begleiten.
Inhaltlich sind natürlich Positionen von John Cage, R. Murray Schafer, Trevor Wishart, La Monte Young und Pierre Schaeffer zu nennen.
Foren und Organisationen wie das World Forum For Acoustic Ecology, Phonography.org und der The Wildlife Sound Recording Society und Ear to the Earth kamen dann seit dem Jahre 2004 als Inspirationen dazu.

Neben der Label-Aktivität, was macht Gruenrekorder sonst noch?

Wir veranstalten seit 2003 größere Festivals und Konzerte, sowie Vorträge und Happenings.
Eine aktuelle Veranstaltung findet am 31. Oktober 2009 unter dem Titel "Whatnight #3 DATA: Soundscapes, Found Sound, Image to Sound, Deleting Sound" in Kooperation mit Whatspace.NL im "De Pont museum of contemporary art" und der "Ennukapel" statt.
Es werden Installationen, Vorträge, ein Soundwalk und Konzerte von Achim Wollscheid, Andrea Polli, Christoph Korn, Derek Holzer und von uns als Labelbetreiber zu hören sein. Durch das Programm führt Tobias Fischer, welcher das Magazin Tokafi und das Label exovo leitet. http://www.gruenrekorder.de/?page_id=570

2010 werden wir Workshops mit verschiedenen Ausrichtungen anbieten. Hier wird es um auditive Wahrnehmungen, Soundwalking und Aufnahmetechnik gehen. Weiterführende Workshops werden sich auf Bioakustik, Archivierung, Editierung und Komposition richten. Hierfür arbeiten wir u. a. in Kooperationen mit dem Frankfurter "Verein zur Förderung der Phonographie und experimentellen Musik" zusammen. Dies wird sich nicht nur auf Frankfurt am Main beschränken; die ersten Verhandlungen laufen auch in England und Holland.
http://www.phonographie.org/pp_workshops.htm

Wir geben das Online-Fachmagazin "Field Notes" heraus, welches mit dem Band 2 im Oktober 09 erscheinen wird. In dieser Publikationen werden verschiedenen Gedanken und Forschungen zu dem Geräusch von Musikern, Künstlern, Theologen, Philosophen und Wissenschaftlern vorgestellt. Das Ziel wird eine Printversion sein, die die ersten vier Ausgaben beinhalten wird. Das Magazin wird zweisprachig herausgegenben (DE/EN) im Netz ist es auch in Spanisch verfügbar. http://www.gruenrekorder.de/fieldnotes/

Welche Ausrichtung hat das Label?

Wir verfolgen von Anfang an verschiedene Disziplinen. Der Focus liegt auf den Field Recordings und den Soundscape Series. Diese werden in Auflagen von 50 bis 1000 Stück herausgegeben. Dazwischen veröffentlichen wir Compilationen und Crossover-Projekte die bis zu Neuer Musik reichen.

Welche fünf Arbeiten würdet Ihr jemandem in die Hand drücken, der sich ein Bild von Gruenrekorder machen möchte, gibt es exemplarische Arbeiten bzw. solche die als Ausnahmen die Regel bestimmen?
Das ist eine gute Frage, diese lässt sich sicherlich von Zeit zu Zeit neu bzw. anders beantworten. Wir sind bis Ende 2009 bei siebzig Tonträgern angekommen, was eine Auswahl leicht erschwert, deshalb versuche ich nun intuitiv eine Handvoll vorzustellen:

Aus dem Segment der Compilation würde ich gerne auf folgende Veröffentlichung hinweisen:

Gruen 033 "Recorded in the field by..." VA (CD)
Es handelt sich hier um eine Compilation von div. Field Recordern aus der Welt, welche Aufnahmen aus dem natürlichen und urbanen Raum aufzeigen. Zu Hören sind hier ausschließlich unbearbeitete Aufnahmen von z.B. Chris Watson, Arron Ximm, Yannik Dauby , Maxim Shentelevs und Dallas Simpson.
http://www.gruenrekorder.de/?page_id=103

Gruen 053 “Autumn Leaves” (MP3)
Bei diesem Projekt handelt es sich um eine Kooperation mit dem Crisap Intitute in London. Entstanden sind unter der Leitung von Angus Carlyle ein Buch mit Texten über das Genre und eine 3 Stündige Compilation im Online Format. In der Auswahl sind Soundscape-Kompositionen, Field Recordings und Interviews von zb. Aki Onda, Peter Cusack, Hildegard Westerkamp, Arno Peeters, Jez Riley French und Christina Kubisch zu hören. (Gewinner des Quartz-Award für Compilation, Paris 2009)
http://www.gruenrekorder.de/?page_id=218

Aus dem Segment der Einzelveröffentlichungen sind folgende Tonträger von inhaltlicher, wissenschaftlicher und ökologischer Bedeutung:

Gruen 064 “Sonic Antarctica” / Andrea Polli, USA (CD)
Zu hören ist eine radiophone Arbeit bestehend aus Sonifikationen: Akustische Umsetzungen von Wetterdaten und Messungen, Field Recordings von der Landschaft und kargen Tierwelt sowie Interviews mit Wissenschaftlern vorort über den Stand der Dinge in der Antarktis.
http://www.gruenrekorder.de/?page_id=342

Gruen 066 “Marine Mammals and Fish of Lofoten and Vesteralen” / Heike Vester, Norwegen (CD)
Dieser Tonträger ist das Resultat siebenjähriger Forschung an dem Verhalten der Orca's und der akustischen Verlärmung Unterwasser vor den Lofoten in Norwegen.
Das Spektrum führt von Jagdlauten der Orca's über Kommunikationslauten von Delphinen und Seehunden. Die Aufnahmen konnten mit speziellen Unterwassermikrophonen angefertigt werden.
http://www.gruenrekorder.de/?page_id=382

Gruen 054 "Some Memories of Bamboo" / Angus Carlyle, UK (CD)
Ein akustisches Portrait einer Kleinstadt in Japan bestehend aus Location Recordings und Soundwalks.
Erscheinungsdatum: 5.11.2009

Was ist Phonographie und was kann sie alles sein?

Das Wort "Phonographie" heißt streng übersetzt "Das Aufschreiben von Geräusch" und lässt sich im alten Griechenland wiederfinden. Im englischsprachigen Raum dann wieder entdeckt als "Phonography", eine Erinnerung an Edison‘s Erfindung "Phonograph".

Wenn wir den englischen Begriff "Field Recording" (akustische Feldaufnahme) zur Hilfe nehmen und in Vergleich mit "Phonography" (Phonographie) setzen, so könnte man folgende Definition stehen lassen:

Die Handlung "Field Recording" ist die Beziehung des Handelnden und seinen Aufnahmemedien in Bezug auf das was er aufzeichnet. Er steht also über seine Medien in Bezug und Kontakt zu der gewählten akustischen Umgebung.
Die "Phonography" (Phonographie) ist viel mehr die Haltung zu einer Umsetzung von verschiedenen Teilbereichen, die sich aus der Arbeit mit Field Recording's ergeben. Hörkunst, welche entsteht indem Konzept,T echnik, Ästhetik, Subjekt und die Zeit in ein vermittelbares Medium einfließen.
Es könnte neben konzeptionellen Audio-Veröffentlichungen auf Tonträger/Radio/Installationen auch das Erzählen von Geräusch oder das geschriebene Wort sein, was sich dann als Buchform oder Erzählung wiederfinden könnte.
Das könnte alles "Phonographie" sein.

Eurem Empfinden nach, gibt es in den letzten Jahren ein gesteigertes öffentliches Interesse an Field Recordings, Soundscapes und ähnlichen Formen auditiver Kunst?

Wenn wir von den 1950ern, wo die "Musique concrète" dem Geräusch die erste Hilfe für mehr Aufmerksamkeit gab, dann weiter in die 1980er blicken, wo das Geräusch als Additiv bzw. Atmosphäre noch mehr zum Einsatz kam und nun auf 2009 schauen, dann kann man von einer kleinen Emanzipation des Geräusches und der Field Recording Bewegung sprechen. Viele Filmemacher arbeiten in dem Feld und entfernen sich mehr und mehr vom Bild.
Veröffentlichungen und Konzerte aus unbearbeiteten Feldaufnahmen sind immer noch sehr rar, das Interesse ist unserer Einschätzung nach gewachsen. Dieses verdanken wir natürlich auch der Geschwindigkeit der neuen Medien und deren Formen der Kommunikation.

Das ganze konzentriert sich weiterhin auf England, Frankreich, Amerika, Japan und vielleicht auch Österreich und Deutschland.

Durch die visuelle und akustische Verschmutzung im urbanen Raum gibt es erste kleine Bewegungen, die auch in die Soundwalking-Praktiken mündet. Die Überflutung der Reize zwingt die eine und den anderen zu Einzeln-Signalen zurückzukehren und darin auch einen Genuss zu entdecken. Das Individuum wird hierbei eingeladen einen eigenen Zugang aufzubauen und sich darinnen sogar kreativ zu bewegen. Bei einer voll durchkomponierten, bearbeiteten Arbeit werden sehr viele Impulse vorgegeben.

Welchen Stellenwert hat Umweltschutz bei Euch?

Wir sehen uns immer mehr in der Pflicht, über die Arbeit im Feld, also konkret in der Landschaft und den damit verbundenen Zuständen, den Problemen und den Ereignissen verschobene Werte zu revitalisieren bzw. zu schützen.
Zum einen soll dies über das Aufzeigen von solchen akustischen Ereignissen passieren, die den Zuhörern und Zuhörerinnen neben einem Zugang auch die Motivation der näheren Auseinandersetzung offerieren soll und zum anderen über die Vernetzung, dem damit zugrunde liegendem Austausch um vielleicht sogar physische Wege einsparen zu können. Wir können ja nicht nur über akustische Ökologie diskutieren bzw. philosophieren und dennoch zu jedem akustisch, spannenden Ort mit dem Flugzeug reisen, dort dann auch noch akustische Ereignisse mitschneiden und später im Studio den Lärm der Flugzeuge herausschneiden, welche weitere Geräusch-Jäger an Bord haben. Wir leben in einer Zeit, in der wir unsere sogenannte Reisefreiheit neu überprüfen müssen.
Deshalb macht es für uns Sinn über Alternativen nachzudenken, die wir über die Vernetzung verschiedener Punkte bereits begonnen haben. Wir haben uns u.a. für die Mitgliedschaft bei der Klimaallianz entschieden und haben auch immer wieder Berührungspunkte mit der NABU und dem WWF.
Abschließend wollen wir gerne eine Frage in den Raum stellen:
Welche Belastung der Umwelt ist tragbar, um ein Dokument zu schaffen, welches genau diesen Zustand zu beschreiben versucht...?

Was waren Eure Überlegungen zu natürlichem und artifiziellen Raum innerhalb eines urbanen Gefüges, die in „urban sound stories“ zu tragen kommen?

Die Idee war es die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden Räume klanglich zu untersuchen und musikalisch zu interpretieren. Dabei fiel es schwer eine Trennung beider Räume vorzunehmen, da die Grenzen fließend verlaufen und stark der Wahrnehmung des einzelnen unterworfen sind. Die Entscheidung ob es sich um einen natürlichen oder künstlichen Raum handelt soll in letzter Instanz dem Hörer überlassen werden. Wir fragen damit auch sehr gerne: Was ist denn heute Natur bzw. was wollen wir uns bewahren?

Inwiefern sind Field Recordings "gestaltete" Tatsachenberichte, wird eine Realität abgebildet oder sind Aufnahmen auch bereits Konstruktion?

Der Begriff Field Recordings ist schwer zu fassen. In erster Linie ist es das Aufzeichnen und Speichern von Klängen. Dabei kann immer nur ein Auszug von Wirklichkeit wiedergegeben werden, gleichwohl wie bei einem Foto nur ein Ausschnitt der Realität zu sehen ist. Der Positionierung des Mikrofons und die Auswahl des Equipments, all das ist in gewisser Weise schon ein beeinflussendes gestalterisches Mittel.

Zum Verhältnis von Bild und Klang: welches Verfahren wurde angewandt, um die Fotos in Sound zu übersetzen? Software? Folgt das bei allen fünf Teilen den gleichen Regeln?

Dem Künstler wurde bei der Wahl des Verfahrens völlige Freiheit gegeben. Es gibt eine Reihe von frei verfügbarer Software im Internet, welche eine Umwandlung von Bildmaterial in Klang ermöglicht. Alle Programme folgen unterschiedlichen Algorithmen, basierend auf dem Ursprung der Fotos. Die Ergebnisse können klanglich sehr verschieden sein, gehen aber aller nach dem Konzept und sind so in gewisser Weise in einen Vergleich zu stellen.

Gibt es klangliche Korrespondenzen zwischen den beiden Teilen? Ist das hörbar gemachte Foto abstrahiert? Könnte man es auch wieder rücktransformieren?

Es gibt mit Sicherheit klangliche Korrespondenzen zwischen beiden Teilen. Der zweite Teil der Arbeit, welcher mehr der künstlerischen Einwirkung unterliegt, folgt einem zu Beginn gewähltem Verfahren, welches nachvollziehbar ist. Das Ergebnis ist eine subjektive Verarbeitung der gesammelten Daten aus Klang und Bildmaterial, welches es nicht immer ermöglicht den Urzustand wieder herzustellen.

Wie gehen die Arbeiten auf die Präsentationsform der Radiosendung ein, die natürlich unter anderen Parametern funktioniert als eine Internet-Ausstellung, eine räumliche Klanginstallation oder etwa eine CD?

Die akustische Übertragung im Radio ist die letzte Instanz der Suche nach den natürlichem und artifiziellen Geräuschen einer Großstadt. Durch die Übertragung im Radio wird der Hörer zurück zur ersten Instanz geführt, welche das Suchen und Aufnehmen von Field Recordings beinhaltet. Die akustische Nähe zu den Aufnahme Orten wird wieder hergestellt und das Geräusche wird selbst wieder zum Geräusch. Am Ende schließt sich der permanente Kreislauf des Hören und Zuhören.
Die 5 Künstler waren in einem abgesprochenen Zeitraum an sehr unterschiedlichen Orten in Europa unterwegs, haben physische Barrieren überwinden müssen.
Was das kollektive Empfinden angeht, transportiert das Radio zu einem verabredeten Zeitpunkt diese Informationen und relativ barrierefrei z.B. in diese Aufnahmeorte zurück. Das kann ein Tonträger nicht leisten.