Wenn von Internet und Radio gesprochen wird fällt fast zwangsläufig das Wort "Radiotheorie". Brecht hatte 1927 gefordert:
"aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache
zu machen", den "Rundfunk aus einem
Distributionsapparat in einen
Kommunikationsapparat zu verwandeln"
[Bertolt Brecht, Ges. Werke, VIII, S.129].
Mit anderen Worten, Brecht forderte für das Radio
einen Rückkanal, eine Reaktionsmöglichkeit für
die Zuhörer.
Und dieser Rückkanal, die Interaktionsmöglichkeit
für die User im Brechtschen Sinne scheint mit dem
Internet zum erstenmal konsequent umgesetzt. Ist
doch jeder Informationsaustausch im Netz schon
auf der Protokollebene bidirektional.
Und so ist eigentlich das einzige populäre
Schlagwort, das in weiten Kreisen mit Netzkunst
und Netzliteratur assoziiert wird die
"Interaktivität", trivialisiert zur
"Clickbar"-keit, meist ergänzt durch
"Userbeteiligung". Nicht dass das falsch wäre,
zahlreiche wichtige Projekte im Netz basieren und
spielen mit diesen Möglichkeiten. Dennoch ist der
"Rückkanal" nur ein Aspekt. Und gerade Netz- oder
Computerliteratur einzig darauf verengen zu
wollen, wie das beispielsweise ab 1996/97 in der
Hypertext- und Hyperfiction-Euphorie geschah,
vernachlässigt andere wichtige und spannende
Ansätze.
Was der Rekurs auf Brechts Radiotheorie nämlich
andeutet, ist, dass es eine deutliche Beziehung
von Netzliteratur zu Radio gibt, sei es zunächst
auch nur die interaktive.
Schon Anfang der 60er wurde in Stuttgart im
Umkreis im Kreis um Max Bense mit
Großrechenanlagen literarisch experimentiert und
gleichzeitig mit zahlreichen Hörspielen der
Stuttgarter Gruppe/Schule (Bense, Reinhard Döhl,
Helmut Heissenbüttel, Ludwig Harig, Ernst Jandl,
Franz Mon u.a.) die Möglichkeiten des Mediums
Radio erprobt und erweitert.
Dieses direkte Nebeneinander von Radio/Hörspiel
und Computer mag vielleicht zufällig gewesen
sein, aktualisierte sich jedoch ab 1996 erneut
für die Netzliteratur über Reinhard Döhl (1934 -
2004).
Die 5-teilige Reihe .ran [real audio netliterature] will experimentell erkunden, was für Möglichkeiten es neben der viel beschworenen Interaktivität gibt und wird verschiedene Ansätze von Netzliteratur (Code, Montage/Collage, Autorschaft, Text-Bild-(Ton) Indifferenz, Mensch-Maschine-Kooperation) aufgreifen und versuchen auf das Radio zu übertragen. Dabei wird mit 5 vorgestellten Positionen in etwa das Panorama skizziert.
Grenzüberschreitungen, Experimente, Aneignung der Wirklichkeit statt Darstellung von Welt, dialogische Kunst, assoziatives Spiel: das ist Reinhard Döhls Werk. Am bekanntesten wohl sein konkretes Apfelgedicht von 1965. 30 Jahre später frisst in Johannes Auers "worm applepie for döhl" ein Wurm den Apfel. Und nun "apple in space": eine Multi-Layer-Hommage, die mit Internet, Wirklichkeit, Textwirklichkeit, dem gesamten Textkonvolut von Reinhard Döhl, Unbewusstheit, Gleichzeitigkeit und Flüchtigkeit experimentiert. Beat Suter und René Bauer planen, als Erweiterung von “apple in space", eine mehrschichtige auditive Mensch-Search-Maschine-Kooperation.
Wer ist Autor, wenn ein Kunstwerk computergeneriert entsteht. Derjenige, der das Konzept entwirft, derjenige, der programmiert, der User oder der Computer? Und wo bleibt das Original, wenn die digitale Kopie doch identisch ist? Wem gehört "Kultur", wenn Netzkunst frei im Internet zugänglich ist und/oder in offenen Prozessen gemeinsam entwickelt wird und wie verhält sich das zur Bildung von "Künstlermarken" im Kunstbetrieb? Cornelia Sollfrank und Timothy Didymus werden in diesen KonTEXTen ihr Hörspiel inszenieren.
Bei Dada werden Wort-Bild-Ton gegeneinander indifferent. Alles kann aus demselben Buchstabenmaterial entstehen. Was Wunder, dass sich Dada im Netz verschiedentlich als Neodada aktualisiert, bestehen doch hier Text, Bild und Ton aus demselben alphanummerischen Code.
Sylvia Egger [] wird mit "DADA TO GO: A WALKTHROUGH LEVELS" eine Sound-/Textstrecke zu Dadaisten im Netz abschreiten.
Die avantgardistischen Strategien der Collage und Montage sind grundlegende Operationen beim Umgang mit Computerdaten. Heiko Idensen, Hyperliterat, Netzwerker und Netzwissenschaftler der ersten Stunde, wird live, in einer auditiven Collage, den "Sourcecode digitaler Texte und hypermedialer Objekte öffnen, neu editieren, konvertieren, exportieren...".
Florian Cramer beschäftigt sich seit mehreren Jahren intensiv mit Codework, poetisch verdichteten Privatsprachen aus "Fragmenten von Netzwerkprotokollen, Kommunikations- und Softwarecodes, die das Englische geschickt mit Programm-, Chat- und Absturzcodes vermischen". Hier soll zum ersten Mal versucht werden Codework für das Radio zu adaptieren.