[ATTACKEN]

NEXT 5 MINUTES

AMSTERDAM/ROTTERDAM - 19., 20., 21. JANUAR 1996



Oliver Marchart: Du hast zusammen mit Geert Lovink einen Text geschrieben mit dem Titel "Grundrisse einer Netzkritik". Der Begriff Kritik war ja mal eine Zeitlang vollkommen out. In den 80er Jahren hätte niemand gesagt, wir machen Kritik. Das war so ziemlich das letzte, was du machen konntest, weil du mit "Kritik" eigentlich immer auf Adorno und diese Art Kritik zurückverwiesen warst, und Kritik darüberhinaus eine Stelle voraussetzt, von der man aus kritisieren kann und die gegenüber dem, was man kritisiert, neutral ist. Ihr "kritisiert" nun Formen von konstruktiver Kritik, negativer Kritik, kybernetischem Kritizismus, Kritik als Trendforschung, also die ganze Kritikindustrie. Was unterscheidet eure Kritik von dieser Kritikindustrie?

Pit Schultz: Das ist erstmal ein tool-box-Vorgehen, dass man kuckt, was im idealen Feld so an Bausteinen zur Verfügung steht und versucht, das zu kartographieren und da die patterns zu finden. Und natürlich ist es ein Spiel mit der Position. Es ist besonders auf Netze hin interessant, dass Kritik auch eine virtuelle Position ist, die konstruiert wird, von der aus man dann als konstruiertes Subjekt spricht. Und das ist beim Netz halt sehr interessant, weil das Netz auf einem Dualismus aufbaut von Innen/Aussen: bist du jetzt im Netz oder bist du aus dem Netz draussen, bist du online oder offline, bist du pro oder kontra. Und diesen Dualismus versuchen wir ein bisschen zu dekonstruieren. Diese Figur des Bastards eben, die mit dem einen Bein drinnen steht und mit dem anderen Bein draussen steht, und aus dieser Spannung heraus Netzkritik entwickeln kann. Das ist etwas, das bei McLuhan auch schon vorkommt, diese Bastardisierung des Medienmenschen.


O.M.: Ihr sagt aber an einer Stelle, und wie darf ich das verstehen, "es gibt eine objektive Analyse des Netzes". Wie meint ihr das?

Pit Schultz: Na es gibt sozusagen eine materialistische Analyse des Netzes, basierend auf den alltäglichen Erfahrungen, und die Erfahrungen sind in sich selber kritisch, das heisst, sie führen zu andauernden Krisen. Ständige technische Probleme einfach. Das heisst, das Konstrukt dieser Megamaschine, die da vor sich hinläuft, ohne dass es zu irgendwelchen Problemen kommt, ist ein Phantasma. Wir sehen das Netz wirklich eher als Wunschmaschine, und es wird ja auch mehr über die Zukunft des Netzes geredet als über das, was wirklich da ist. In seiner real existierenden Funktion ist das Netz als ständig in Umstrukturierung zu sehen. Ständig wird was Neues angebaut, ständig passieren Updates und ständig kommmt es auch zu Ausfällen. Ganz konkret ist in Berlin meine Erfahrung, dass jede Woche immer irgendwas nicht funktioniert. Ich mach da selber User-Service, und da hast du ständig mit der Disfunktion des Netzes zu tun. Und das ist in sich selber eine Kritik: also wenn irgendein User anruft und sagt: >'Tschuldigung, hier läuft was nicht<, das ist eine Form von Netzkritik. Ganz praktisch.


O.M.: Also eurer Position zur Disfunktion stimm ich zu. Ihr schreibt da, dass die Disfunktion nämlich notwendig ist, um ein libidinöses Verhältnis zum Netz aufzubauen oder zur Technik überhaupt. Das ist auch genau meine Erfahrung bei richtigen Nerds, die die Probleme brauchen. Wenn die nicht ein Problem haben, dass sie jetzt nicht lösen können und die Lösung solange vor sich herschieben, bis sie ein anderes Problem gefunden haben, sind sie total unglücklich. Du bist ja immer - und du hast ja auch so einen psychoanalytisch lacanianischen Ansatz - du bist immer hinter einem Objekt her. Und das beinhaltet aber notwendigerweise, dass du das Objekt nie erreichen darfst und nie erreichen kannst, um deine Spannung aufrechtzuerhalten. Es gibt unglaublich viele Geschichten von Leuten, die nur Spass haben, wenn sie ununterbrochen neue Probleme konstruieren. Also nicht, dass die Probleme da sind, die werden von ihnen geschaffen, um sie dann möglichst lange nicht lösen zu können - aber sehr viel dran zu arbeiten. Das ist katastrophal. Das heisst, dass es nicht funktioniert, ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt irgendsowas wie Funktion im Medium gibt. Das ist letztlich auch so ein ganz typisch lacanianisches Ding.

Pit Schultz: Ja, man kann eben mit diesem Begehrensbegriff kommen, und das ist ganz klar ein prozessualer Begriff. Sobald man am Ende angekommen ist, muss es weitergehen, es muss zum nächsten Problem kommen, es muss die Spannung weitergeleitet werden. Der Moment der Satisfaction, der muss möglichst hinausgezögert werden. Also das ewige Konfigurieren des System ist eigentlich diesem inhärent. Bei UNIX z.B. gehört diese 80 Prozent-Lösung mit zur UNIX-Philosophie. Das heisst, es ist ein ständiges Zusammenbasteln der einzelnen Module zu Lösungen, die immer irgendwo Bricollage-Lösungen sind, die immer weiterbaubar sind. Was damit natürlich auch kollektivierbar wird. Das ganze Linux System, das sich auf dem Internet entwickelt hat, ist ein gutes Beispiel für so eine quasi-disfunktionale Programmumgebung, an der ständig weitergebastelt wird, wo der Kernel ständig zwischen einer halbwegs stabilen und einer total instabilen Version hin- und her-oszilliert. Es gibt nunmal den Hacker-Kernel und den Release-Kernel. Und der Release-Kernel hat immer wieder ein paar Future-Options, die dann im Hacker-Kernel wieder eingebaut werden aber nicht funktionieren. Das ist bei Microsoft auch drin, aber nicht so kollektiviert. Bei Linux ist es so, dass jeder einfach rankann und weiterschreiben kann, und das Begehren sich damit viel weiter ausbreitet. Jeder der Programmiererfahrung hat, kann relativ leicht mit Cplusplus und diesen Tools an diesem Entwicklungsprozess teilhaben, und zwar unkommerziell, also auf einer Basis von Anti-Copyright. Das Internet selber hat so eine Ästhetik des Spröden. Du brauchst also ein gewisses Basiswissen, und wenn du dieses Basiswissen hast, kommst du in einen quasi zen-buddhistischen Prozess hin zur Erleuchtung, zur Gesamtsicht des Systems. Es gibt sozusagen einen Mythos der wenigen Wizards, die wirklich begreifen, was das Netz ist, und auf dem Weg dahin gibts verschiedene Stufen der Erleuchtung, wo man immer mehr das System >UNIX plus Internet< begreift und bis in die Tiefen hinabsteigen kann - Assembler eben, Plus C, das ist so ein eigenes Universum der Methoden, das Begehren einzuschreiben, eigentlich so ein Bastelprozess.


O.M.: UNIX gibt einem ja gleichzeitig die Möglichkeit, sich die Machtgefühle eines Superuseres zu phantasieren.

Pit Schultz: Ja. Es gibt sozial eine ganz klare Hierarchie, die ist auch schon der Benutzerverwaltungsstruktur von UNIX eingeschrieben. Du hast den Superuser, und für jeden Server kannst du einen eigenen Administrator passwordmässig konfigurieren, und damit hast du schon ein hierarchisches Modell mit den Mastern, den Superusern und den Unterabteilungsleitern.


O.M.: Das ist schon ein komisches Wort, das muss man sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen: Superuser. Was da schon alles drinsteckt und was das für eine semantische Korona hat.

Pit Schultz: Ja es gibt einen ständigen Kampf zwischen dem rhizomatischen Modell und dem Baummodell. Es gibt den Root-Access, der an der Wurzel ist, und es gibt das ständige Ausfransen des Systems. Das ist auch wieder ein Bastelprozess, das System immer wieder zurückzubinden auf eine Baumstruktur, dann fasert das wieder aus, dann kommts wieder zu irgendwelchen Crosslinks, die nicht kontrollierbar sind oder zu irgendwelchen Rooting-Problemen, die nicht vorausgesehen wurden. Also das geht jetzt zusehr ins Detail, aber wir schreiben gerade an dem nächsten Teil, wo es um UNIX-Kultur geht und Netzrooting, also diese technischen Grundlagen. Da gibts auch interessante Bücher über die UNIX-Philosophie. Sowohl das Internet als auch UNIX sind Kinder der Sixties, beide '68 oder so entwickelt worden in den Urversionen. Sowohl das Internet als Kriegsmaschine als auch UNIX als psychodelisches Hackertum, quasi zen-buddhistisch, lassen sich ganz klar als Kultureme dieser Deterritorialisierungsbewegung, die Ende der 60er stattgefunden hat, lesen. Und gestern war ja auch ein Vortrag von Peter Lamborn Wilson, Hakim Bey eben, über den Neurospace, der sich ganz klar auf Drogenkultur bezog. Das heisst, es gehört eine gewisse psychodelische Weltsicht dazu, um dieses zerfaserten Netzwerk irgendwie zu verinnerlichen. Das geht aber zusammen mit einer asketischen Weltsicht, mit dem ASCII-Bildschirm. So eine mönchartige Askese auf das Wesentliche. Also nicht die katholische Repräsentationsoberfläche.


O.M.: Nicht das katholische WWW.

Pit Schultz: Nein, sondern das Eindringen in die molekularen Ebenen. Klar auch das Entkörperlichungsphantasma ist immer dabei. Und es gibt dann Demons und alle möglichen Witzfiguren.

O.M.: Das ist auch wichtig, welche Mythologeme da wieder hineintransportiert werden, also welche Weltmodelle.

Pit Schultz: Es gibt einen enormen Sprachwitz in der Hackersprache, die sich von allen möglichen Ecken Begriffe importiert und damit so eine eigene schmutzige Religion aufbaut. Das ist schon eine Technologiereligion, aber eine, die eine gewisse Selbstironie hat oder zumindest eine gewisse hackerethische Liberalität, wie soll ich sagen, Open-Mindedness.


PIT SCHULTZ INTERVIEW 2 (HAKIM BEY & die Techno-HipHop-Differenz)