der “virtureal ton“ ist eine sammlung unterschiedlichster materialien zum thema

akustische virtualität.

die musikzeitschrift "ton" erscheint seit 1992 viermal jährlich als printmedium. (herausgeber: ignm - internationale gesellschaft für neue musik). im herbst 1996 erschien der "virtureal ton" nicht nur als print-ton sondern erstmals auch als online-ton. ein offenes, wachstumsfähiges diskursforum für "akustische virtualität" steht seither zur verfügung, um durch immer wieder neue materialien ergänzt zu werden. als essenz und querschnitt der jeweils aktuellen diskussion wird aber weiterhin jährlich eine print-version publiziert werden.

weltweit waren und sind komponisten, klangarchitekten und -designer, klanginstallateure, akustiker, musikwissenschaftler, soft- und hardwareentwickler aufgerufen, ihre beiträge, anregungen und links zu übermitteln.

der folgende text stellt als call for proposals den ausgangspunkt für die vorliegende sammlung dar - ein versuch einen erahnbaren definitionsrahmen für "akustische virtualität" abzustecken:

komponisten, musiker, doch vor allem musikwissenschaftler sind gewohnt, über musik vorwiegend als zeitkunst nachzudenken; musik ist demnach - mehr oder minder raffiniert - gestalteter klang in der zeit. “raum und musik“ ist in diesem bewußtsein eher spezialisten, etwa akustikern, zugeordnet. einer der gründe, die zu dieser langen tradition geführt haben, ist sicherlich die völlige mißachtung des raumaspekts in unserer - dem westlichen musikverständnis zugrundeliegenden - notationsart. erst allmählich und zu oft von falschen grundparametern ausgehend wird der raum akustisch neu entdeckt, sozusagen musikalisiert.

ungeachtet dessen war und bleibt die raumwahrnehmung die fundamentalste “anschauungskategorie“ des menschen. die zeitvorstellung hingegen scheint aus der raumwahrnehmung abgeleitet und von der raumanschauung durchsetzt. die zeit, von der wir kaum wissen, ob sie außerhalb unserer “anschauung“ überhaupt existiert, bietet sich dem menschen als zeit - raum dar. und auch in situationen, in denen man aus dem wachsein (dem bewußt - sein) heraustritt, löst sich die raumwahrnehmung erst auf, wenn bereits alle anderen realitätseindrücke verschwunden sind.

für diesen

prozeß des raum - wahrnehmens
nimmt das ohr eine nicht nur von musikern sondern ebenso von mehr oder minder bewußten gestaltern öffentlicher und privater umwelten (architekten, designer, werbefachleute, verkehrsplaner, u.v.a.) unterschätzte rolle ein:

der hörsinn steht mit seiner fähigkeit, sowohl in großen distanzen als auch im unmittelbaren nahfeld makro- und mikrostrukturen klar differenzieren zu können, zwischen dem intimen tastsinn und dem “fernsinn“ auge. neben der (klang)identifizierung vermag das ohr aber vor allem schallquellen zu lokalisieren, ja sogar um die ecke zu (zu)hören. darüberhinaus läßt sich all täglich erfahren, daß das ohr schneller “reagiert“ als die anderen sinnesorgane, da zum hören keine “reaktion“ (wie beispielsweise zum sehen oft erst der kopf bewegt bzw. die augen fokussiert werden müssen) nötig ist; die ortung, woher ein klang kommt, geschieht im millisekundenbereich; charakteristische klänge lassen sich innerhalb von dreißig tausendstel sekunden wiedererkennen. auf der - im ausgerollten zustand etwa 3cm langen - cochlea (gehörschnecke) finden klaviaturartig 7000 verschiedene tonhöhen platz, die das untrainierte ohr unterscheiden kann. insgesamt verfügt das ohr auch über eine hohe bandbreite, einen hohen frequenzumfang: das auge sieht eine “oktave“, das ohr hingegen hört zehn.

gemeinsam mit den anderen sinnesorganen ensteht so eine fülle verschiedenster eindrücke, welche die raumwahrnehmung in ihrer gesamheit bestimmen. die unterschiedlichkeit der gelieferten informationen macht aber deutlich, daß es schwierig - letztlich unmöglich - ist, einen einheitlichen raumbegriff zu "definieren". zusätzliche komplexität schafft etwa der umstand, daß jeder mensch sehr

individuelle “anschauungsformen“ von verschiedenen räumen
besitzt. dieses phänomen betrifft vor allem hörräume:

so bildet die natürliche akustisch wahrnehmbare alltagsumgebung lediglich den äußeren raum ab: mein wohnzimmer erkenne ich eindeutig, indem ich gelernt habe wie es auf akustische signale - ein vorbeifahrendes auto, die stimme meiner geliebten und manch anderes - reagiert (oder umgekehrt). hingegen setzen sich nicht natürliche klänge, die mit elektronischen mitteln erzeugt und / oder realisiert werden, über die grenzen des äußeren - visuellen - raumes hinweg. solche klänge besitzen verschiedene körperliche volumina; wirken manchmal groß und dunkel dann wieder spitz und hell. sie werden nicht nur als eigenschaften einer schallquelle und damit als indikatoren für deren ortung wahrgenommen, sondern können sich quasi zu objekten mit körperlichen, ja räumlichen eigenschaften verselbständigen. so entsteht ein hör-raum, dessen dimensionen in einem verwirrenden verhältnis zum seh-raum stehen. die von erfahrung geprägten visuellen und akustischen raum"bilder" decken sich nicht mehr; sie dis"sonieren"; ihr verhältnis muß neu ausgelotet werden.

und genau dieses ungewöhnliche,

“unreale“ verhältnis zwischen optischem und akustischem raum
stellt das hauptmerkmal jener akustischen virtualität dar, um die es im folgenden geht. nicht so sehr interessant ist in diesem zusammenhang das herkömmliche verständnis der begriffe virtual reality und cyberspace, das - zum derzeitigen stand der entwicklungen - vor allem von einer stark visuell geprägten (virtuellen) welt ausgeht, in der die anderen sinnesorgane bloß die wahrnehmungsdaten des auges unterstützen, ja ähnlich dem sounddesign diverser hollywoodfilme “untermalen“, jedoch nie eine eigenständige und gleichberechtigte wahrnehmungs“rolle“ einnehmen dürfen. durch ein solch irritier- und relativierendes verhältnis zwischen hörraum und realraum können sich aber beide erstmals auf gleichberechtigte weise befruchten, um dadurch eine langfristige
emanzipation des ohres gegenüber dem auge
zu ermöglichen.


akustische virtualität eröffnet mit hilfe neuester technologien virtuelle klanglichkeiten, die bis jetzt zwar unzugänglich, jedoch schon immer existent, immer möglich waren:

jeder raum klingt (nach)klang jeder klang klingt (nach)raum
virtualität, die; -, -en: innewohnende kraft od. möglichkeit (duden 94)


doch sind definitionen des begriffs / der begriffswelt rund um "akustische virtualität" gerade erst im entstehen; zahlreiche andere gebiete mit diesem thema aber eng verbunden. im folgenden soll, anhand einiger - für mich wichtiger - merkmale dieser neuen musik, versucht werden, einen erahnbaren definitionsrahmen abzustecken:

akustische virtualität steht also für jenen bereich der musikentwicklungen, welcher die

kunst der akustischen zeitgestaltung
nun durch die
kunst der akustischen raumgestaltung
erweitert und mit hilfe zeitgenössischer mittel und medien, wie sie auch computer und lautsprecher darstellen, zu mittlerweile äußerst frappierenden ergebnissen geführt hat; wobei in dem zusammenhang “raum“ keineswegs nur die äußere schale sondern ebenso das innenleben - den mikroraum - eines klanges / eines klanggebildes meint. ergebnisse, die einerseits nur mit hilfe modernster technologien erreichbar wurden, deren visionäre vorahnungen andererseits aber erst zur entwicklung dieser technologien geführt haben. daher soll im folgenden auch diesem raum / dieser zeit zwischen vision und realisation genügend platz eingeräumt werden.

sowohl hard-

(interaktive 3D / 4D - spatialisationsysteme, die jeweils
auf ihre weise versuchen, dem klangraum möglichst
präzise kontrollierbaren raumklang abzugewinnen)
als auch
softwareentwicklungen
(analyse-, dsp- und kompositionsprogramme,
die schon in ihrer grundstruktur den raumaspekt
als entscheidenden parameter berücksichtigen)
sollen hier präsentiert und diskutiert werden.

die enge zusammenarbeit mit forschung auf den gebieten

physikalische /
physiologische /
psychologische "akustik"

führt zu einer musik, die sich nicht mehr länger hinter der ästhetik schwerköpfig theoretischer überbauten verstecken muß, sondern sich vielmehr an einer phänomenologie unmittelbarer sinnlicher wahrnehmung / wahrnehmbarkeit orientiert, diese erweitert und schließlich neue auditive perzeptions- und verarbeitungsfähigkeiten entdeckt und bewußt macht.

ein weiterer schwerpunkt liegt neben der auslotung der musikalischen, physikalischen und auditiven qualitäten solch akustisch-virtueller räume vor allem in der

öffnung dieser klangkunst “nach außen“.
die realisierung solcher projekte ist nicht mehr an für kunstproduktion vorgesehene orte gebunden. vielmehr will / muß sich diese neue klangkunst erst ihre eigenen räume erobern; und dies keineswegs nur im musikalischen sinn - als weiteren parameter - sondern sehr wohl auch in einem soziologischen kontext. wobei es sich dabei nicht nur um die (neu)gestaltung von alltagsräumen handelt, sondern auch um die einbeziehung experimentell verstandener telematischer räume, wie sie etwa globale netzwerke darstellen.

in all diesen verschiedenen bereichen geht es schließlich um die untersuchung der auswirkungen solch (teils dauerhafter) bewußter akustischer eingriffe auf die umwelt und auf den menschen selbst; letztlich aber wohl auch um die diskussion über eine neue

“funktionalität“ dieser art von musik.
klangarchitektur, klangdesign, klanginstallationen u.v.m. leisten so als künstlerische projekte / experimente, welche all diese einflüsse kombinieren und zu sinnlich erfahrbaren virturealitäten generieren, schließlich auch einen ökologischen beitrag - zu mehr lebensqualität.

(sha.TM   sommer 1996; teile dieser einleitung wurden dem text " - virtual acoustic art and research" entnommen, der in seiner gesamtheit ebenfalls in dieser zeitschrift abgedruckt ist)