Die Engel des Cyber-Space

Ein Gespräch mit dem französischen Komponisten Michel Redolfi anläßlich seines Aufenthalts bei der "Ars Electronica" in Linz und seiner Unterwasser-Installation Liquid Cities im Linzer Parkbad. In der Diskussion mit Christian Utz spricht Redolfi über Fragen der neuen Technologien im Bereich der Künste, die Konzeption des Festivals "Ars Electronica" und die zukünftige Rolle des Komponisten.


Christian Utz: Michel, der erste Punkt, der mich interessiert: Es ist wohl evident, daß Du kein Komponist mehr bist, der sich nur mit Musik beschäftigt, sondern einer, der alle Sinne miteinbezieht: Hören, Sehen, Tasten/Berühren, Schmecken. Bei einem Medienfestival wie hier bei der Ars Electronica bin ich immer wieder etwas nachdenklich, wenn ich sehe, wie sehr die Betonung auf den visuellen Künsten, der visuellen Wahrnehmung liegt und wie wenig der Audio-Bereich dagegen entwickelt ist; wie siehst Du das?

Michel Redolfi : Liquid Cities ist eigentlich die Antwort auf Deine Frage - ich mag das Internet sehr, ich habe das Gefühl, es schon Jahre zu benutzen und arbeite tatsächlich erst seit ca. einem Jahr damit, und trotz dieser relativ kurzen Zeit habe ich schon so viele kulturelle Welten und eine große Vielzahl an Kommunikationsformen entdeckt. Zur selben Zeit hatte ich das Gefühl, daß ich mit dem Papier, mit dem Schreiben, mit der Stimme (z. B. am Telefon) mehr und mehr den Boden unter den Füßen verliere.
Aber E-mail und elektronische Kommunikationsformen schaffen andererseits immer mehr eine geistige Welt, in der die Leute durchdrehen oder zumindest sehr isoliert sind. Und um eine kleine Brücke in diese Mauer hineinzubauen hatte ich diese Idee, den Leuten zu sagen: "Seht her, ihr seid im Internet, ihr wollt euch ausdrücken, eure Gedanken austauschen. Treten wir aus dem Cyber-Space heraus und treffen wir uns an einem realen Ort! Liquid Cities ist gedacht als Projekt, das das Netz öffnen soll. Teilnehmer können sich mehrere Wochen lang über das Netz eintragen, ihre Namen und Kommentare über das, was sie sich unter eienr "Liquid City" vorstellen, eingeben. Diese Namen und Kommentare werden dann während der Installation durch Stimm-Synthese hörbar gemacht und von Menschen, die sich in der Installation aufhalten, also in der "realen" Welt gehört. So entsteht Kommunikation zwischen dem Cyber-Space und der realen Welt. Es gibt diesen Film von Wim Wenders "Der Himmel über Berlin", den ich sehr mag und in dem Engel auf der Erde landen, um das menschliche Leben zu teilen; allerdings sind sie manchmal etwas verwirrt, manchmal wissen sie nicht, was sie auf der Erde tun sollen, weil sie ja immer noch Engel sind....

C. U.: Und die Cyber-Space-Surfer sind die Engel von heute?

M. R.: Ja, sie haben gute Ideen, sie wollen den kulturellen Austausch, eine neue Art zu denken, aber auf der Erde benehmen sie sich nicht besonders gut - irgendwie bleiben sie mit ihrem "Heimatplanten" sehr eng verbunden. Hier wollte ich deshalb nicht nur, daß sie auf der Erde landen, sondern sich auch direkt an menschliche Wesen wenden, die sich ganz real in warmem Wasser befinden und ihnen in einer höchst sensitiven Weise zuhören. In diesem Sinn sind Tasten, Schmecken, Fühlen, die Schwerelosigkeit des Körper im Wasser für mich wichtig. All diese Sinneswahrnehmungen machen das Hören erst vollständig und es ist nicht mehr nur eine rein intellektuelle Erfahrung.

C.U.: Könnte man sagen, daß Du vor diesem Hintergrund skeptisch gegenüber einer rein digitalen oder virtuellen Kunst bist?

M.R.: Wir müssen sehr aufpassen, daß Kunst, die digitale Technik verwendet, nicht die Lebendigkeit verliert. Vor einigen Jahren waren die Leute verrückt nach Cyber-Helmen oder -Brillen, das läßt jetzt schon wieder nach, der neue CAVE im AEC ist eine sinnvolle Antwort darauf: Es gibt keine schweren Helme mehr, die man sich überstülpen muß, nur noch leichte Brillen und man kann sich dabei noch lebendig fühlen.

C.U.: Man kann das Erlebnis im CAVE auch mit anderen Personen gleichzeitig erleben, die Isolation wird so verringert...

M.R.: Ja, Gemeinsamkeit und eine Art von Wohlfühlen kommen wieder. Es gab eine Zeit, in der "digital" eine irgendwie ganz fremdartige Erfahrung bezeichnete, sicher gab und gibt es da auch viele Gefahren. Aber ich habe keine Probleme damit, dem digitalen Zeitalter zu folgen. Jedesmal wenn neue, interessante Dinge auftauchen, sagen die Leute, es sei gefährlich und sie haben unrecht! Ich meine der Zug war eine Gefahr, das Auto ist es tatsächlich heute noch...

C.U.: Gut, aber ich denke, Deine Arbeit weist doch auf die Notwendigkeit hin, menschliche Sensibilität und Spürfähigkeit in die Kunst zu integrieren und sich nicht ausschließlich auf die digitalen Medien zu beschränken, die doch immer nur einen Teil des menschlichen Erfahrungsbereiches erreichen können.

M.R.: Der Körper, die Sinnlichkeit, die Sexualität werden immer durchdringen. Sehen wir uns an, was passiert: selbst wenn das Internet im sogenannten BBS-Bereich geschlossen wird, wird immer irgendeine Form von Pornographie oder Gewalt durchkommen. Man kann nicht in einer sterilen digitalen Welt leben. Wenn man den Leuten verbietet, ihren Trieben oder Gefühlen Ausdruck zu geben, wird man nur einen Ausbruch unterdrückter Gewalt erzeugen. Es ist besser, das Netz zu öffnen, es durchlässig zu machen, etwas "Fleisch" hineinzubringen. Denn wenn man versucht, es steif und abstrakt zu halten, wird das Frustration erzeugen und die Menschen werden diese Frustration sehr gewaltsam ausdrücken. Jedenfalls: Das Potential und die derzeitige Realisierung scheinen mir sehr gut zu sein. -

C.U.: Gehen wir zu Deiner aktuellen Arbeit über: Wie war Dein Eindruck von der heutigen Liquid Cities-Installation im Pool?

M.R.: Die heutige Session im Pool war überhaupt nicht befriedigend. 3 von 9 Computern sind ausgefallen wegen der großen Hitze und Feuchtigkeit. - Das ist übrigens eine Sache, die man über das "digitale Zeitalter" wissen muß: Es wird niemals unter tropischen Klimabedingungen funktionieren; alle Maschinen brauchen trockene und kühle Luft... - das wird vielleicht in Zukunft noch eine weitere Kluft zwischen nördlichen und südlichen Staaten erzeugen - ...

C.U.: Dennoch hast Du ja auch einige Projekte mit Klängen aus tropischen Regionen realisiert... Die Interaktivität heute im Pool funktionierte also nicht so, wie ihr es geplant hattet?

M.R.: Nein, heute noch nicht, die Interaktivität war ein ziemliches Durcheinander. Es war unklar, in welcher Art und Weise die Farben der Teilnehmer im Wasser die Interaktivität genau steuern und wieviel "Druck" wir in Abhängigkeit davon auf die einzelnen Maschinen legen sollten. Nun, was ist das eigentlich für eine Musik? Sie funktioniert an sich von selbst, hat ihren eigenen kybernetischen Fluß. Wenn jetzt die Besucher sich in der Installation bewegen, verursachen sie verschiedene Bewegungen auf der Wasseroberfläche, die Musik bekommt dadurch einen wellenartigen Charakter...

C.U.: Davon konnte man aber heute noch nicht besonders viel merken. Die Musik war die ganze Zeit über relativ unverändert und konstant.

M.R.: Obwohl es eigentlich schon passiert ist. Das Problem war, daß zu viel Ereignisse auf einmal ausgelöst wurden und das hat eine Art "Overflow" erzeugt, da zu viele Parameter auf einmal verändert wurden. Gegen Ende haben wir die Parameteränderung von 20 auf 2 Parameter pro Personen reduziert und auf einmal wurde es sehr musikalisch.

C.U.: Die Installation muß also permanent an die Situation im Pool angepaßt werden.

M.R.: Ja, es ist ein work-in-progreß, wir müssen dauernd die Parameter ändern und die Installation wird jeden Tag ganz anders klingen. Dazu kommt, daß diese Installation hier zum ersten Mal gemacht wird, also gab es auch noch keine Erfahrungswerte; es gibt sehr viele Faktoren in einer solchen Installation, die unvorhersehbar sind. Auch äußere Faktoren spielen eine Rolle; der Pool ist tagsüber sehr hell und es entsteht so nicht die ruhige und gelassene Atmosphäre unter den Besuchern, die wir uns wünschen würden; übermorgen werden wir eine Nacht-Session haben, da wird das leichter werden. Du mußt morgen nochmal zu Liquid Cities kommen, es wird eine vollkommen andere Stadt morgen! Heute waren die Pioniere, die Stadtgründer unterwegs, alles war etwas chaotisch, morgen wird man viel mehr schon das Gefühl haben, in dieser Stadt wirklich zu wohnen. Wir mußten wirklich unsere Maschinen erst "zähmen".
Weißt Du, ich mag eigentlich dieses Konzept der "Echtzeit" nicht. Es bringt natürlich enorme Vorteile, ich arbeite damit so wie jeder andere heutzutage, aber gleichzeitig kann es so viel wichtige Potentiale wegnehmen. Gestalten heißt doch, einen Klang nehmen und ihn hier oder dort ganz bewußt setzen und das ist eben nicht "Echtzeit". Stattdessen kommen die Leute und sagen, okay, wir befinden uns jetzt im Zeitalter der Echtzeit, wir wollen auf den Knopf drücken und einen Klang hören, ob interaktiv oder nicht: So funktioniert es aber nicht! Wenn man sagt, daß es funktioniert, dann geht man davon aus, daß man irgendetwas tut und es dann in jedem Fall mag. Aber ich denke als Musiker kann man dieses System nur ablehnen.

C.U.: Es macht es unmöglich, Dinge auszuarbeiten.

M.R.: Es setzt einen unter Druck und es ist kein Instrument. Elektronische Klänge sind wie Instrumente an sich primitiv. Am Anfang meinst du, sie können dir alles geben, aber dann verbringst du dein Leben damit, etwas daraus zu machen und mehr und mehr entdeckst du die Grenzen... Gut, aber vielleicht sprechen wir noch über andere Themen.

C.U.: Ja, eine wichtige Sache fällt mir noch ein: Du hast viel im Bereich Sound Design (z. B. für den Park in La Vilette in Paris) gearbeitet und das ist ja auch ein Aspekt, der die offenere Rolle zeigt, die ein/e KomponistIn heute einnehmen kann. Was denkst Du, wie wird sich diese Rolle in der Zukunft entwickeln, ich meine, soweit ich es sehe, wird die traditionelle Komponistenrolle immer überflüssiger, niemand braucht eigentlich mehr diese akademische Konzertmusik. Dagegen gibt es aber einen starken Bedarf an bewußter Klanggestaltung im öffentlichen Raum, im Alltag. Welche neuen Aufgaben kommen da auf die KomponistInnen zu?

M.R.: Ja, das ist ein gutes Thema... Ich meine, wir alle lieben John Cage, nicht nur weil er wirklich ein wunderbarer Mensch war...

C.U.: Hast Du ihn getroffen?

M.R.: Ja, sehr oft. Ich bin mit Daniel Charles, einem seiner Biographen, sehr gut befreundet. Und jedesmal, wenn John in Frankreich war, haben wir uns zu dritt getroffen. Diese Begegnungen haben meine Arbeit sehr stark beeinflußt.

C.U.: In welcher Hinsicht?

M.R.: Was mich an ihm immer so beeindruckt hat, war die Art und Weise, wie er sich als Person auflösen und hinter der Musik verschwinden konnte. Er hat daraus nie eine große Show gemacht, aber tatsächlich "verschwand" er einfach. Er hat es akzeptiert, daß er der Bourgoisie lächerlich erschien, daß er unter den Akademikern nicht als großer Komponist galt, daß er unter den Spaßvögeln nicht als wirklich witziger Komponist angesehen wurde. Man hat nie gewußt, wo er eigentlich ist, aber daß das, was er tut, grundlegend, fundamental ist, war immer deutlich. Viele Dinge, die er erfunden hat, leben jetzt weiter, auch wenn er selbst nicht mehr da ist. Man kann "Welturaufführungen" von Cage bis in alle Ewigkeit machen. Und Cage würde vom Himmel lachen und Dich preisen, wenn Du einfach, sagen wir, morgen eine John-Cage-Premiere veranstalten würdest, er würde es mögen und sagen "Schön. Du hast mich verstanden." (Lachen).

C.U.: Ist es nicht etwas paradox, daß Cage jetzt einer der bekanntesten Namen in der Musik des 20. Jahrhunderts ist, obwohl er selbst gerade seine Person immer verschwinden lassen wollte?

M.R.: Na ja, aber hat er denn überhaupt Musik zurückgelassen? Ich glaube nicht. Mehr wohl Ideen und Botschaften. Aber kommen wir zurück zum Sound-Design: Du kannst dieselbe Sache in diesem Bereich umsetzen. Du bringst ein Konzept, eine gute Idee, aber du signierst nicht die Mauer, das Gebäude, an denen deine Klänge erklingen. Normalerweise kennt dich niemand, wenn du Sound-Design machst. Oft wissen die Leute, die an diesem Ort, wo Deine Musik erklingt, leben oder arbeiten, nicht einmal, daß es sich um die Arbeit eines Komponisten handelt. So war es bei meinem Design für "Musica" in Straßburg vor fünf Jahren. Es ist einfach ein Umgebungston, in dem man sich irgendwie ganz wohl fühlt, der aber sonst nicht weiter auffällt. Ich denke, diese Art von Sound-Design könnte ein reifer Weg sein, um John Cage heute lebendig werden zu lassen. Niemand kann ein neuer John Cage sein. Aber man kann einige seiner Ideen aufnehmen, die auf die Öffnung von menschlichen Räumen und menschlichem Geist zielen und man kann vor allem auch das Spielerische in all diesen Ideen aufgreifen. Es gibt immer einen Trick dabei. Und so sollte gutes Sound-Design auch aussehen. Nicht einfach eine 1:1-Abbildung der Umgebung - z. B. ein Wissenschaftsgebäude auch mit "wissenschaftlichen" Klängen umgeben - ist interessant, sondern ein "trompe d'oreille", etwas, das zum Nachdenken, zum Wundern Anlaß gibt.

C.U.: Könnte man sagen: je besser das Sound-Design, desto weniger nimmt man es wahr?

M.R.: Ja, genau! Als ich jung war und Filmmusik machte, war es eines meiner Ziele, die Musik so exakt in die Erzählung einzubetten, daß man sie überhaupt nicht als eigenes Element wahrnehmen konnte. Und dasselbe kann man als Sound-Designer mit der Musik im öffentlichen Raum tun: man gibt dem Raum Kraft, man schärft die soziale Interaktion, aber die Musik selbst kann und soll man vergessen.

C.U.: Könnte es auch ein Thema sein oder werden, den Lärm um uns herum zu reduzieren oder zumindest diesen Lärm musikalisch zu verarbeiten? das scheint mir ein sehr kritischer und schwieriger Aspekt zu sein.

M.R.: Nun, ich mache nicht diese Art von Sound-Design, die sich eng an den Raum-Ton oder den Gebäude-Ton hält, wie beispielsweise Max Neuhaus, ich arbeite lieber mit Klängen, die Kontraste zu ihrer Umgebung bilden. Z. B. arbeitete ich das Sound-Design für einen Garten aus, mit kleinen Lautsprechern in den Büschen und Pflanzen und diese Klänge mußten irgendwie mit der relativ lauten Stadtumgebung leben, interagieren. Nach einer Zeit wird es in solch einer Situation schließlich möglich, den Lärm in ein Gesamtklangbild zu integrieren und er wird zum Hintergrundklang vor dem sich die Klänge im Garten dann frei bewegen.

C.U.: Ich glaube, dieses bewußte Arbeiten mit dem Lärm könnte in Zukunft noch viele neue Perspektiven eröffnen.

M.R.: Ja, der Lärm kann so in einige Distanz rücken. Aber dabei arbeitet man eigentlich nicht direkt mit dem Lärm an sich. Das Zeitalter, in dem man mit Lärm komponiert hat, ist ja vorbei, damit kann man heute niemand mehr schockieren.

C.U.: Nein, ich meine nicht Lärm als Provokation, sondern ein bewußtes Komponieren dieses Lärms, z. B. mit dem Ziel, Aggressivität, die durch Lärm entsteht, abzubauen.

M.R.: Na ja, ich finde diese Aggression kann man ruhig bewahren. Weißt Du, in Nizza habe ich ein Sound-Design für den Botanischen Garten, der sich direkt gegenüber dem Flughafen befindet, entwickelt und die Leute fragten mich, ob ich nicht den Lärm der Flugzeuge mit meiner Musik irgendwie "maskieren" könnte. Ich sagte: "Vergeßt das. Ich kann nicht gegen diesen riesigen Flugzeugklang ankämpfen. Aber ich kann versuchen, die Konzentration der Leute auf einige andere kleinere Klänge zu richten und so den Flugzeugklang in den Hintergrund treten lassen. Ich setzte also einige sehr kleine, kristallartige Klänge in die Klanglandschaft des Gartens, die die Menschen von den großen Klängen des Flughafens ablenkten. Zuerst wollten sie "schöne" Klänge, Vogelgesang und so, einfach um etwas "dagegenzusetzen". Aber ich wollte stattdessen eine neue Perspektive schaffen, ohne massive Schockwirkung oder gewaltsames Ankämpfen gegen einen Klang wie den Flugzeugklang, vor dem man ja doch nicht fliehen kann.

C.U.: Michel, vielen Dank für dieses Gespräch.

(Das Gespräch fand am 3. 9. 1996 im Linzer Ramada Hotel statt)