ALVIN CURRAN
MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH II
the magnetic garden




II   THE MAGNETIC GARDEN

"Die Melodie, die zuerst wie beendet klingt, wird auf einer Spielzeugkreissäge rezykliert und erscheint dann wieder als Mensch. Zehn Minuten später stellt sie sich als 5/4 Walzer wieder ein und wird von einer Gruppe arbeitsloser Harmo-nikaspieler im Zentrum von Darmstadt unter die Lupe genommen. Sie besucht Persien, Buffalo und Irene, und kommt schließlich auf einem Bett von Ein-Ton-Gesängen in Braxtons früherem Studio zur Ruhe - einen Lattenschuß vom Canal Grande ... das ist Motorola Landschaftsarchitektur, das ist Klanggeographie ..." 7 It then visits Persia, Buffalo and Irene coming to rest on a bed of one note hymns in Braxton's former studio - a rim-shot away from the Grand Canal... this is Motorola landscape design; this is Sonic Geography ..."

THE MAGNETIC GARDEN ist in seinem Konzept eine Verschmelzung meines Solo-Performance Stückes SONGS AND VIEWS OF THE MAGNETIC GARDEN 8und der gerade beschriebenen NOTES FROM UNDERGROUND. Aber hier bedeutet das Wort Garden nicht mehr die unsichtbaren Eisenteilchen, die auf der Spule eines 1/4 -Zoll-Bandes ver-teilt sind, sondern einen wirklichen Garten, wo Gepflanztes wachsen kann, und in diesem Fall einen Ort, wo sich Landschaftskunst und Klangkunst auf ganz besondere Weise treffen. Während viele meiner "Umweltwerke" vergänglich sind - sie dauern etwa 30 - 60 Minuten und sind oft ein einmaliges Event - hat THE MAGNETIC GARDEN eine physische Entität - ein Stück Land, das künstlerisch geformt und durch Klang bereichert ist - nicht anders als andere privat oder von öffentlicher Hand in Auftrag gegebene Landschaftsarbeiten oder Umweltskulpturen. Ich sehe heute THE MAGNETIC GARDEN als den "Locus", an dem meine jahrelangen, fort-gesetzten Untersuchungen auf dem Gebiet der Musik, der Technik und der Pflanzenwelt zusammenfließen.

Die Grundidee des GARDENs stammt zwar von mir, er ist aber in erster Linie ein Forum der Zusammenarbeit und wird daher als kollektive Arbeit einer Gruppe ausgewählter KünstlerInnen, Com-puterwissenschaftlerInnen und kreativer GärtnerInnen präsentiert werden. Von den KünstlerInnen eigenständig auf gleichgroßen Arealen geschaffene Landschaften werden in gegenseitigem Einverständnis arrangiert und durch meine unterirdischen Klanginstallationen, die sich unsichtbar wie ein Faden durch das Ganze ziehen, verbunden.

Da diese Arbeit per Definition offen und flexibel ist, sind die endgültigen Konfigurationen variabel, je nach Größe des gewählten Ortes, der Zahl der teilnehmenden KünstlerInnen 9 ihren technischen Anforderungen und dem Gesamtbudget. Ich kann momentan keine Künstlerentwürfe vorstellen, nur die bescheidene Skizze eines Musikers - ein von mir entworfenes hypothetisches Modell. Meine Schnörkel, die eine gewisse Einfachheit und Vielfalt illustrieren sollen, zeigen hier eine imaginäre Aufsicht

In diesem Modell ist der GARDEN ein eher großes Viereck aus 9 bis 16 gleichgroßen Segmenten von je 125 - 200 m2, deren Bepflanzung, Bodengestaltung und unbelebte Objekte von einer Gruppe ausgewählter KünstlerInnen entworfen wird. Unabhängig vom Design hat jedes Beet in der Mitte ein unterirdisches Lautsprechersystem, das in einer zisternenartigen, nach oben teilweise offenen und durch ein unauffälliges Eisengitter abgedeckten Zementkammer installiert ist

Die zu den Lautsprechern gesandten Musiksignale werden von einem eigens "komponierten" Computerprogramm mit MIDI-Mixern ausgewählt (Anhang), das die Dauer, relative Laut-stärke und den Grad der Bearbeitung der Klänge bestimmt, und zu welchem Lautsprecher oder welcher Lautsprecherreihe sie gehen. Die Musik, die aus einer großen und vielfältigen Menge roher, gesampelter Klänge komponiert ist, ist dann in ständig wechselnden Mustern und Zyklen von einem oder mehreren Punkten in der Lautsprecherkonfiguration des Gartens zu hören. Dazu kommen verschiedene Richtungs- und Dynamikmuster der Klangbewegungen. Der Schlüssel zur Musik aber ist ein einmaliges Pro-gramm, das in Tandemanordnung mit den beschriebenen Klangbewegungen die steten, aber langsamen Veränderungen im Laufe der vier Jahreszeiten emulieren wird. Die wesentlichen Klänge des Systems werden also nicht den Charakter von statischen oder fix vorgegebenen Sequenzen haben, sondern dynamische Zustände zyklischer, langfristiger Veränderungen repräsentieren.

Anders als ein typischer botanischer Garten wird dieses Werk keinen enzyklopädischen und didaktischen Anspruch haben, sondern sich auf das Metaphysische, das Imaginäre und das Alltägliche konzentrieren. Denn hier, in diesem musikalischen Landschaftswerk, hat das Publikum - anders als im Konzertsaal oder in einer Kunstgalerie - kein passendes Ritual, hinter dem es sich verstecken könnte; es muß seinen eigenen "Text", seine eigene "Partitur" aus den Bildern, Klängen und Bewegungen schaffen, zwischen de-nen es sich bewegt. Die Zuseher/ZuhörerInnen sind keine bloßen Figuren in der Landschaft, sondern spielen eine aktive Rolle in diesem offenen Theater - allein dadurch, daß sie da sind und sich darin bewegen. Den optischen Teil des Gartens könnten Flächen ausmachen, die mit Sand, Steinen, Holz, Metallen, Wasser, viskosen Flüssigkeiten, eingegrabenen Videos, Fundobjekten und Neon gestaltet sind, aber auch durch Kräuterbeete, ein Gestrüpp von früchtetragenden Ranken, Büschel von Ziergräsern, Bambus, Kürbisbeete, Hängepflanzen, in Form geschnittene Sträucher, Teppiche von Rauolia Hookeri und andere kreative Pflanzungen - was immer sich auf Grund des lokalen Klimas, Terrains und der einheimischen Flora anbietet, und mehr.

Was die Technik anbelangt, so besteht das gesamte Musik-produktionszentrum aus einem Computersystem für digi-tales Mehrkanal-Audio-Mixing, Playback, Processing und Routing. Und die Musik, die in erster Linie aus den unterirdischen Lautsprechern vernommen wird, könnte zusätzlich aus Lautsprechern ertönen, die über der Erde, in Bäumen oder Sträuchern plaziert sind oder auch an anderen natürlichen Standorten wie Stein- oder Heuhaufen, Brunnen, Erdhügeln etc. Klänge, die an irgendeinem Lautsprecherstandort im Garten auftauchen, können in jeder Richtung und in jeder beliebigen hörbaren Geschwindigkeit an jeden anderen Ort bewegt werden.

Die Musik ist trotz des sehr einfachen Konzepts kompositorisch sehr komplex, da sie aus vielfachen Schichten fixierter und unbestimmter Strukturen besteht, die in ständig wechselnden kurzfristigen oder langangelegten Beziehungen zueinander stehen. Die Grundelemente jeder Schicht - Dauer, Ge-schwindigkeit, Dichte, Klangfarbe, Lautstärke und räumliche Konfiguration - werden dabei von zwei Hauptgruppen von Algorithmen gesteuert: eine für die Mikro-Zeitstrukturen (Ereignisse, die Sekunden bis wenige Minuten dauern) und die andere für die Makrodimension der Zeit (Stunden, Tage, Monate und Jahre), als klangliche Analogie zur biologischen Zeit.

Mit Ausnahme der mechanisch erzeugten Klänge (Wind-mühlen, Wasserräder, Hochspannungsleitungen, etc.) werden alle anderen in diesem Werk verwendeten Klänge als Rohmaterial auf einer 1 - 2 Gigabyte Festplatte gespeichert. Im folgenden sind einige der Typen und Kategorien aufgezählt:

MENSCHLICHE SPRACHE: Khoisan (Schnalzlaute), Baskisch, Lakota etc. Die Stimmen von John Cage, Mahatma Ghandi, Maryanne Amacher, Eric Satie, Rosa Luxemburg, Giacinto Scelsi, Groucho Marx, Kurt Schwitters, Elijah Mohammed, Marlene Dietrich, Duchamp, The Lone Ranger, Mao Tse Tung, Marilyn Monroe etc. ...

TIERLAUTE: Büffel bei der Paarung, Millionen Fledermäuse, die aus einer Höhle in Texas ausschwärmen, Trommelfisch, arktische Wölfe, das Innere von Bienenstöcken, kanadische Seetaucher, venezuelanische Baumfrösche, röhrende nord-amerikanische Elche, Gorillaschreie, balzende Steppenhühner und Infraschallfrequenzen von Elefanten, etc. . .

MENSCHLICHE TÄTIGKEITEN VON ÜBERALL HER: Spaziergang auf einer Landstraße auf Java; Liebe in Paris; der Unabhängig-keitstag in Little Italy und Chinatown in New York; Eisschollen im arktischen Meer; Weltcup-Fußballspiel in Italien; eine Geburt in Mexico City; die russische Revolution von 1917; ein Raum voll schnarchender Menschen in Bombay; ein Pferdefest in Ulan Bator; ein Flüchtlingslager in Afrika; eine Hochzeit in Thailand, etc.

MUSIK VON ÜBERALL HER: rumänische Zigeuner; David Tudors "Rainforest"; das Kehlkopfsingen von Inuitfrauen; Lamonte Young; osteuropäische jüdische Kantoren; singende Pygmäen-kinder; Fanny Mendelssohns Trio op.11; Thelonius Monk; Om Khalsoum; tibetischer Mönchsgesang; Conlon Nancarrow; Spike Jones; Yoko Ono, Souza, Fats Waller; das Musica Elettro-nica Viva Ensemble; höfische Musik aus Korea; Lieder von Berberinnen; frühe Bluegrass-Musik, Hildegard von Bingen, Anthony Braxton, Wysznagradski, Queen Latifah, Carl Stallings, Billie Holiday, Lakota-Indianer, äthiopische Juden, Dr. Dre, etc.

INDUSTRIE/UMWELTKLÄNGE: Abbruchgeräusche, Ramm-hämmer, Schiffsirenen, Nebelhörner, Rangieren von Zügen, Schlachthöfe, Donner, Marmorbrüche, Vulkane, Rom bei Nacht, Straßenfest in Kalkutta, Dubliner Pubs, Obdachlose in Berkeley, spielende Kinder in Sarajewo, Diamantenminen in Südafrika, Massagesalons in Bangkok, Stammesriten im brasilianischen Regenwald, etc.

ANDERE QUELLEN könnten BEKANNTE UND SELTENE MUSIK-INSTRUMENTE umfassen: Dijeridoo, Virginal, Sho, Zither, Alphorn, Bandonion, Spielzeugklavier, Kontrabaß-Saxophon, Wellblechrohre; direkte RADIO- und LIVE-QUELLEN: über Kurzwellenradio mit Computerabstimmung; wo möglich, direkte Telephonverbindungen zu nahegelegenen Klang-quellen, oder WIND, SONNE oder MECHANISCH BETRIEBENE INSTRUMENTE ...



Fußnoten

7. Anmerkungen zum CD-Begleittext für SCHTYX, s.o.
8. 1973 neu abgemischte Aufnahme für CD, CATALYST/BMG, Herbst 1993
9. Einige KünstlerInnen, mit denen ich gerne arbeiten würde, sind: Agnes Denes, Mel Chin, Anna Murch, Melissa Gould, Joan Jones, Nam June Paik, Robert Long, etc.


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